DARKNET
gemildert, dass immerhin er es gewesen war, der den Flüchtigen aufgespürt hatte – na ja, jedenfalls stellte es sich für seine Vorgesetzten so dar. Und schließlich hatten die Trottel vom MSS Ross aus der Bar entwischen lassen, nicht er.
Dass er entwischt war, verblüffte Shen allerdings immer noch.
Er war jetzt auf dem Weg ins Nervenzentrum des großen chinesischen Überwachungsexperiments. Ein Soldat in Uniform ließ ihn in einen Lift ohne Etagenknöpfe. Man hatte ungefähr so viel Kontrolle wie in einer Mikrowelle, wenn man erst mal drin war. Die Tür schloss sich hinter ihm, und es ging alternativlos abwärts.
Dann öffnete sich die Tür, und Shen trat in einen fensterlosen Kontrollraum, gut dreißig Meter im Quadrat und mindestens zehn Meter hoch. An den Wänden waren Hunderte großer Flatpanel-Monitore – und eine zentrale Videowand von stadiontauglichen Maßen. Momentan zeigte die große Videofläche einen Plan von Shenzhen, und es sah auf den ersten Blick aus, als wären die Positionen sämtlicher Überwachungskameras durch blaue Punkte markiert – Shen wusste jedoch, dass das nicht sein konnte, weil das Blau sonst die gesamte Stadt bedeckt hätte. Er vermutete, dass es Knoten zu Polizeiwachen-Feeds waren oder vielleicht auch Abzweigpunkte. Es gab Pinmarker und Statusanzeiger an einigen der Punkte und außerdem auch noch bewegliche Marker (Überwachungsfahrzeuge?).
Im Kontrollraum saßen reihenweise Zonenbearbeiter – uniformierte Staatssicherheitsoffiziere. Sie alle waren Top-Absolventen der Telekommunikationsakademien. Eifrig, intelligent und allzeit bereit, den Willen der Partei umzusetzen.
Als Shen eintrat, salutierte ein junger Adjutant. «Hauptmann Shen. Sie werden erwartet.»
Fast hätte Shen gelacht – als ob er sonst hier hineingelangt wäre!
Der Adjutant winkte ihn mit sich und führte ihn durch die Reihen der Überwachungsoffiziere zu einem Podest mit einem weiteren Halbkreis von Monitoren und Kontrollpulten. Dort sah er General Zhang Zi Min, den Chef der Staatssicherheit, im würdevollen Businessanzug inmitten eines Knäuels von IT -Leuten, die kurzärmlige Hemden mit Krawatte und Sichtausweise an Schlüsselbändern trugen. Die Hälfte von ihnen waren Han-Chinesen, aber Shen bemerkte mit Bestürzung, dass es sich bei der anderen Hälfte unverkennbar um Ausländer handelte – dem Aussehen nach
Amerikaner
.
Amerikaner hier im Nervenzentrum des Hauptquartiers der chinesischen Inlandsüberwachung – das machte ihn sprachlos. General Zhang lauschte gerade einem der Amerikaner, nickte aber Shen zu.
Shen salutierte zackig unter Einsatz des ganzen Körpers, wie er es auf der Akademie gelernt hatte. Als Leiter des Parteiministeriums für innere Sicherheit war Zhang wohl einer der mächtigsten Männer Chinas. Er hatte Shen in dessen Abschlussjahr der Wuhan-Akademie dafür auserkoren, jene Routerprojekte voranzutreiben, die so viele wertvolle wirtschaftliche und militärische Erkenntnisse geliefert hatten. Und Zhang hatte auch dafür gesorgt, dass Shens Pekinger Startup erfolgreich war – indem er ihm Kapital verschaffte und viele Kunden vermittelte. Seinen Mercedes, sein geräumiges Haus in Orange County, einer Neubausiedlung nördlich von Peking, und seine Zukunft verdankte Shen General Zhang. Zhang war sein Gönner.
Der Amerikaner sprach immer noch, aber so leise, dass Shen ihn über drei Meter und mehrere Personen hinweg nicht verstehen konnte. Die lässige Art dieses Amerikaners dem General gegenüber war unfassbar – als ob der Mann keine Ahnung hätte, mit wem er da redete. Der General nickte nur immer wieder geduldig, warf aber ab und zu einen schwer zu deutenden Blick in Shens Richtung.
Schließlich unterbrach der General den Amerikaner mit erhobener Hand und winkte Shen heran.
Shen rückte seine Krawatte zurecht und trat in die Mitte der Gruppe.
Der General deutete auf die Bildschirme vor ihnen. Sie zeigten die Martini-Bar, wo Shen sich mit Ross getroffen hatte, und alle umliegenden Straßen, jeweils über etliche Blocks. Die Videoaufnahmen waren auf eine 3D-Map der Geometrie der Gebäude gelegt – was dem Ganzen etwas von einem Computerspiel gab.
Der General sagte auf Mandarin: «Hauptmann Shen. Helfen Sie uns zu verstehen, wie Ihr russischer Freund einfach den Treffpunkt verlassen konnte, ohne gesehen zu werden. Man hat mir mitgeteilt, dass Ihre Treffpunktwahl unter dem Aspekt der visuellen und akustischen Überwachung nicht gerade optimal war.»
Shen beäugte
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