Darkover 17 - Die blutige Sonne
Darkovaner seien immun gegen die Verlockung terranischer Technologie und hätten sich aus dem Hauptstrom von Kultur und Handel des Imperiums herausgehalten. Waren sie unter der Tünche der Zivilisation Barbaren? Oder - etwas weniger Offensichtliches, etwas Geheimnisvolleres?
In seinen Freistunden spazierte er manchmal in die Altstadt hinunter, aber den darkovanischen Mantel trug er nicht wieder, und er sorgte dafür, daß seine Kopfbedeckung das rote Haar verbarg. Er gewährte sich Zeit, es durchzuarbeiten, sich zu vergewissern, wie der nächste Schritt aussehen sollte. Wenn es einen nächsten Schritt geben würde.
Erstens: Das Waisenhaus besaß keine Unterlagen über einen Jungen namens Jefferson Andrew Kerwin junior, der im Alter von dreizehn zu seinen terranischen Großeltern geschickt worden war.
Zweitens: Der Hauptcomputer im HQ weigerte sich, auch nur eine der in seinen Speichern enthaltenen Informationen über Jefferson Andrew Kerwin senior herauszugeben.
Kerwin überlegte hin und her, was diese beiden Fakten gemeinsam haben mochten - zusätzlich zu dem Faktum, daß der Computer des HQ offensichtlich programmiert war, einem zufälligen Anfrager überhaupt keine Information zu geben - nicht einmal die, daß eine Person wie sein Vater jemals existiert habe.
Wenn er jemanden finden könnte, den er im Waisenhaus gekannt hatte, wäre das wahrscheinlich eine Art Beweis. Zumindest ein Beweis dafür, daß seine Erinnerungen an ein Leben in diesem Waisenhaus der Wirklichkeit entsprachen…
Sie entsprachen der Wirklichkeit. Er mußte davon ausgehen, weil ihm sonst kein Ansatzpunkt blieb. Wenn er begann, an seinen eigenen Erinnerungen zu zweifeln, konnte er ebenso gut gleich die Tür zum Chaos öffnen. Deshalb wollte er von der Annahme ausgehen, daß seine Erinnerungen der Wirklichkeit entsprachen und daß die Aufzeichnungen aus dem einen oder anderen Grund geändert worden waren.
Im Lauf der dritten Woche wurde ihm bewußt, daß er den Mann Ragan ein bißchen zu häufig gesehen hatte, als daß das noch Zufall sein konnte. Anfangs hatte er sich nichts dabei gedacht. Wenn er das Raumhafen-Café betrat und Ragan jedes Mal an einem Tisch ganz hinten entdeckte, nickte er ihm flüchtig zu, und damit hatte es sich. Schließlich war es ein öffentliches Lokal, und zweifellos verkehrten dort viele Stammkunden. Inzwischen war er selbst schon auf dem Weg, einer zu werden.
Aber als er eines Abends wegen einer dringenden Reparatur im Abfertigungsbüro des Raumhafens Überstunden machen mußte und Ragan lange nach der üblichen Zeit an seinem üblichen Platz sah, fiel es ihm auf. Bis jetzt war es nichts als eine Ahnung. Aber er begann, zu ganz unregelmäßigen und wechselnden Zeiten zu essen - und viermal unter fünf Fällen entdeckte er den dunklen Darkovaner. Dann trank er sein Glas einen oder zwei Tage lang in einer anderen Bar, und nun war er sicher, daß der Mann ihn beschattete. Nein, ›Beschatten‹ war das falsche Wort, dafür machte er es zu offen. Ragan gab sich gar keine Mühe, aus Kerwins Sichtbereich zu bleiben. Er war zu klug, sich Kerwin als Bekannter aufzudrängen - aber er stellte sich in Kerwins Weg, und Kerwin hatte das seltsame Gefühl, Ragan wolle von ihm daraufhin angesprochen, wolle darüber befragt werden.
Aber warum? Er dachte es durch, lange und langsam. Wenn Ragan ein Wartespiel trieb, hing es vielleicht mit den anderen Merkwürdigkeiten zusammen. Und wenn nur er, Kerwin, sich zurückhielt und tat, als merke er nichts, mochten sie - wer immer »sie« waren - gezwungen sein, etwas mehr von dem Blatt zu zeigen, das sie in der Hand hielten.
Doch es geschah nichts, außer daß er sich in seine neuen Pflichten und sein neues Leben eingewöhnte.
In der Terranischen Zone glich das Leben dem in jeder anderen Terranischen Zone auf jedem beliebigen Planeten des Imperiums. Aber Kerwin war sich der Welt jenseits dieser Welt sehr bewußt. Sie rief ihn mit einem seltsamen Hunger. Er ertappte sich dabei, daß er innerhalb der gemischten Gesellschaft einer Raumhafenbar die Ohren spitzte, um Bruchstücke eines darkovanischen Gesprächs aufzufangen, daß er immer wieder geistesabwesend eine beiläufige Frage auf Darkovanisch beantwortete. Und manchmal nahm er des Nachts den rätselhaften blauen Kristall von seinem Hals und starrte in seine fremden kalten Tiefen, als könne er durch schiere Willenskraft die verworrenen Erinnerungen zurückholen, zu denen der Stein jetzt
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