Darkyn: Dunkle Erinnerung (German Edition)
nicht?«
»Die Welt beurteilt dich nach deinem Aussehen, verstehst du? Im Moment siehst du noch aus wie eine Polizistin, deshalb respektieren die Leute dich. Vielleicht hast du das verdient; vielleicht nicht – aber du wirst trotzdem respektvoll behandelt.«
Sam rieb über die Narbe in ihrer Handfläche. Lucans Leben durch sein Blut zu sehen, verwirrte sie mehr als alles andere. »Wie behandeln die Leute Gothics denn?«
»Wie behandelst du sie denn?«
»Gar nicht«, gestand Sam. »Du bist die Erste, die ich je getroffen habe.«
Chris nickte. »Und das auch nur, weil ich direkt neben dir wohne, dir Kaffee gekocht und dich vor einem gemeinen Freund gerettet habe, dem du meiner Meinung nach wirklich dringend den Laufpass geben solltest. Wenn du mir auf der Straße begegnet wärst oder in einem Laden oder unten an der Treppe, hättest du mich gegrüßt? Sei ehrlich.«
»Wahrscheinlich nicht.« Sie sah auf Chris’ Kopf. »Das blaue Haar ist ein bisschen beängstigend.«
»Genau. Ich sehe nicht aus wie die anderen Mädchen. Ich bin ganz anders. Eine Außenseiterin.« Sie holte einen Föhn aus dem Badezimmerschrank und steckte ihn ein. »Also behandelst du mich wie eine.«
Sam seufzte. »Das ergibt keinen Sinn. Warum ziehst du dich so an, wenn du nicht willst, dass die Leute dich wie einen Außenseiter behandeln?«
»Na ja, erstens, weil es mir gefällt. Zweitens, weil ich eure falsche Gesellschaft mit den spießigen Regeln nicht mag.« Chris stellte den Föhn an und machte sich an Sams feuchtem Haar zu schaffen.
Sam blickte nicht in Keris Spiegel – sie hatte aufgehört, hineinzusehen, als das Mädchen mit Make-up ankam, das aussah wie verschiedene Schattierungen einer besonders haltbaren Schuhcreme – und ließ den Stummfilm von Lucans Leben, der ihr nicht aus dem Kopf ging, noch einmal ablaufen.
Er hatte länger gelebt, als sie fassen konnte, und war an Orten gewesen, die nicht länger existierten. Er war ausgerechnet Priester gewesen und hatte in Kriegen überall im Mittleren Osten gekämpft. Dabei war es passiert – er war von den Kreuzzügen mit einer Art Krankheit zurückgekehrt und daran gestorben. Sam musste sich beinahe übergeben, als sie Lucans Erinnerung daran durchlebte, wie er sich aus dem Massengrab vor London herausgrub, in dem man ihn beerdigt hatte.
Sie glaubte auch, dass sie vielleicht deshalb sein Blut lesen konnte: Er war gestorben und beerdigt worden.
Mit der methodischen Geduld der Polizisten sortierte und untersuchte sie jede Erinnerung, die sie hatte festhalten können. Lucan war definitiv ein Killer; er hatte mehr Menschen umgebracht, als sie zählen konnte. Das Problem war, dass er es nie gewollt hatte – er war geschickt worden, um sie zu töten.
Auch das konnte sie verstehen. Von den Erinnerungen, die sie aus Lucans Blut gelesen hatte, waren die Kyn, die er umgebracht hatte, gemeingefährlich gewesen, wie die Gräfin, die absichtlich versucht hatte, die gekrönten Häupter Europas mit Kynblut zu infizieren, damit sie Königin werden konnte, oder Veränderte wie Faryl Paviere, die ihre Menschlichkeit verloren hatten und wahllos Menschen töteten, bis Lucan sie aufhielt. Ein paar andere waren Verräter gewesen, die ihr eigenes Leben schützen wollten, indem sie Informationen oder die Kyn selbst an die Bruderschaft übergaben.
Kein Gesetz, kein Polizist und auch kein Gefängnis der Welt konnte die Darkyn aufhalten. Das Einzige, was sie stoppen konnte, war Lucan gewesen.
Die Brüder waren für Sam am schwersten zu begreifen. Lucans Erinnerungen zufolge waren sie, wie die Kyn, ursprünglich katholische Priester gewesen. Die Brüder hatten die Kreuzzüge unterstützt, aber nie in den Heiligen Kriegen selbst gekämpft. Stattdessen hatten sie Lucan und die Tempelritter geschickt. Sie wussten von der Krankheit, die die Kyn aus ihren Gräber zurückkehren ließ, aber anstatt ihnen zu helfen, machten sie sie zu Dämonen und fingen an, sie zu jagen.
Während seines menschlichen und nichtmenschlichen Lebens hatte Lucan niemals jemanden nah an sich herangelassen. Frances war die Einzige, die seine Mauern eingerissen hatte, und sie hatte einen anderen Mann geliebt. Es machte Sam wütend zu sehen, mit welcher Gefühlskälte Frances Lucan dazu benutzt hatte, die Schulden ihres Liebhabers zu bezahlen und für ihn zu sorgen, als er im Sterben lag. Alles, was er im Gegenzug von ihr erwartet hatte, war ein bisschen Freundlichkeit, und sie hatte ihn hinausgeworfen wie einen Sack voller
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