Darkyn: Ruf der Schatten (German Edition)
schneeweiß. Marmor in mehreren weißen und elfenbeinfarbenen Schattierungen, Gips und etwas, das Quarz sein konnte, waren darin verarbeitet. Das Gebäude wirkte sehr alt, und doch zeigte es keine Alterserscheinungen. Die Steine wirkten, als wären sie erst gestern geschlagen und verbaut worden.
Nichts rührte sich, und niemand kam, um sie zu begrüßen.
Sie zählte elf Türme, vier vorne, mit neun Meter hohen Schutzmauern an jeder Seite, die das Gebäude umgaben. Die Türme und Türmchen waren schmaler und höher, das Mauerwerk empfindlicher, und nichts war symmetrisch oder von den Proportionen her zusammenpassend. Sie konnte nicht verstehen, warum sie sich nicht für mehr als eine Sekunde auf ein Detail konzentrieren konnte, ohne dass ihr Blick wieder auf etwas anderes gelenkt wurde. Brumal veränderte oder bewegte sich in keinster Weise, aber es wollte nicht, dass sie es ansah. Schließlich blickte sie auf den Boden, um ihre Augen auszuruhen, und holte tief Luft. Das Pferd tänzelte unter ihr.
»Bleib stehen « , sagte sie zu ihm und befreite ihre Füße, bevor sie ein Bein über den Sattel schwang und sich zu Boden gleiten ließ.
Sie stellte fest, dass sie auf die vier vorderen Türme blicken konnte, wenn sie den Rest der Burg ignorierte. Zwischen ihnen befand sich ein schmaler, zugbrückenartiger Steg hinter einem riesigen vergitterten Eisentor.
Sie führte das Pferd vor die vier Türme und rief: »Ist da jemand ?«
Niemand antwortete, aber schweres Metall knirschte, und das Eisengitter zwischen den vorderen Türmen begann sich zu heben. Die Enden des Gitters sahen aus wie scharfe Schwertklingen. In der Mitte blieb es stehen und ließ gerade genug Platz, dass Liling mit dem Pferd hindurchgehen konnte.
Direkt unter den Klingen hindurch.
»Denkst du, dass sie es auf uns herunterfallen lassen, wenn wir reingehen ?« , fragte sie das Pferd. Das Pferd antwortete nicht. »Du bist mir eine große Hilfe .« Sie schwang sich auf seinen Rücken. »Nächstes Mal rufe ich mir ein Taxi .«
Eine Reihe zierlicher, dunkelhaariger Frauen in einfachen weißen Nachthemden stand auf dem Gang hinter dem Tor. Alle trugen einen Brautschleier über ihren glänzenden Haaren und ihren hübschen Gesichtern. Alle Frauen hatten das gleiche Gesicht.
Am Ende stand ein Mann in einer überwiegend mitternachtsblauen Rüstung. Er hielt in jeder Hand ein Schwert, und weiße Federn bedeckten einen seiner Arme, sodass es aussah, als wäre es der Flügel eines Vogels. Auf seinem goldblonden Kopf saß eine Krone aus pfirsichfarbenen Rosen mit braun gefleckten Blättern. Die langen, spitzen Dornen an den Stielen der Rosen stachen ihm ins Fleisch. Blutstropfen liefen über sein Gesicht wie rote Tränen.
»Valentin .« Liling ging langsam auf ihn zu.
Er hielt die beiden Schwerter ausgestreckt vor sich, als wollte er sie damit angreifen.
Liling streckte ihre Hände aus, um ihm zu zeigen, dass sie leer waren. Aber Feuer schoss aus ihren Handflächen, orangerot und hungrig. Die Rosenkrone um seinen Kopf fing an zu welken und wurde schwarz, legte sich eng um seinen Schädel.
Er rammte die beiden Schwerter in den Steinboden zwischen ihnen.
»Wähle « , sagte er, und das Blut auf seinem Gesicht wurde zu echten Tränen.
Liling blickte auf die Schwerter im Stein. Ein Schwert war voller Blut, das andere glühte rot. Sie trat einen Schritt zurück. »Ich kann nicht .«
» Wähle .«
»Valentin, bitte .«
Er ging an ihr vorbei, ohne sie zu sehen. Seine Augen waren mit Eis gefüllt. Während er an der Reihe verschleierter Frauen vorbeiging, veränderten sich deren Gesichter und wurden zu exakten Kopien von Lilings. Eine nach der anderen drehte ihm den Rücken zu und stellte sich mit dem Gesicht zur Wand.
» Valentin .«
»Du nimmst die Sünde von der Welt .« Er sah sie nicht an. »Sei uns gnädig .«
Wasser lief um ihre Füße und bedeckte sie, kroch ihre Fesseln hinauf, wirbelte gurgelnd um sie herum und zog an ihr, als sie zu rennen versuchte. Und dann kam das Wasser von allen Seiten auf sie zu, peitschte auf sie ein, warf sie hin und her, und die Welt verschwand, als eine riesige Welle über ihr zusammenschlug und ihren Schrei erstickte.
13
Kyan ignorierte Melanie Wallace fast den ganzen Nachmittag lang, während er das Boot über den Fluss lenkte. Sie schien zufrieden damit, an Deck zu sitzen, sich zu sonnen und manchmal in ihrem Buch zu blättern und sich Notizen zu machen. Dass sie sich ausgerechnet direkt vor dem Ruder auf den Bauch
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