Darkyn: Versuchung des Zwielichts (German Edition)
»Philippe?«
»Hier, Meister.« Sein Seneschall hielt ihm den Morgenrock hin.
Er zog seine Hose an und ging unsicher an ihm vorbei. Farben und Formen wirbelten um ihn herum. »Wo ist sie?« Er konnte immer noch ihr Ringen nach Luft hören, das leise, angestrengte Geräusch, das in sein Ohr drang. »Oben? Wie schlimm habe ich sie verletzt?« Vielleicht war es nicht so schlimm, wie er dachte. Die Hörigkeit ließ einen Dinge anders wahrnehmen, verdrehte das Reale ins Surreale.
»Sie ist fort, Meister.« Philippe folgte ihm die Treppe hinauf. »Ich habe Eure Tresora ebenfalls weggeschickt.«
Michael blieb stehen und drehte sich um. »Warum?«
»Sie hat Angst davor, was Ihr mit ihr tun werdet.« Er erklärte, was passiert war, wie Eliane ihn nach der Operation weggeschickt und dann Alexandra allein mit ihm eingeschlossen hatte. »Hätte ich gewusst, was sie vorhatte, dann hätte ich Euch aufgehalten oder sie umgebracht.«
Michael ließ sich in den am nächsten stehenden Stuhl fallen und schlug die Hände vor das Gesicht. Wut tobte hinter seinen Augen, Augen, die Alexandra Keller mit ihrem freundlichen Herzen genauso wiedergeöffnet hatte wie mit ihren geschickten Händen. »Ist es so, wie ich es in Erinnerung hatte? Habe ich sie genommen?«
»Ja.« Philippe rieb sich über die Schläfen. »Als ich zurückkam, wart Ihr tief in die Hörigkeit versunken, und die Ärztin wa r … « Er schüttelte den Kopf.
Alexandra. Jetzt, wo er endlich ihr Gesicht sehen konnte, war sie nur noch eine Erinnerung. Sein Schuldgefühl wurde zu einem Raubvogel, riss an ihm mit heißen, wütenden Krallen. »Was habt ihr mit der Leiche gemacht?«
»Sie ist nicht tot.« Philippe trat einen Schritt zurück. »Noch nicht.«
Michael stand so heftig aus dem Stuhl mit den feinen, aufwendigen Schnitzereien auf, dass die verschnörkelte Armlehne abbrach. » Was hast du gesagt?«
»Sie lebt.« Sein Seneschall zeigte ihm ein Fax.
Der Bericht, gefaxt vom Anführer des Chicagoer Jardins , der ihn zuerst auf Alexandra aufmerksam gemacht hatte, war knapp, aber vollständig. Die Ärztin war von den Behörde n – leben d – in einem Warteraum des O’Hare-Flughafens gefunden worden. Man hatte sie ins Krankenhaus gebracht, wo sie auf der Intensivstation lag. Ihr Zustand galt weiterhin als kritisch.
Michael las es dreimal, aber durch den Schock war er nicht in der Lage, den Zeitunterschied auszurechnen. »Das ist heute gekommen?« Sein Seneschall nickte. »Wie lange war ich in der Hörigkeit gefangen?«
»Durch die Operation wart Ihr schwach, und wir dachten, es wäre nöti g … «
»Wie lange?«, schrie Michael.
Philippe duckte den Kopf. »Fünf Tage, Meister.«
Fünf Tage. Fast genauso lange wie Gott gebraucht hatte, um die Welt zu erschaffen.
Er zerknüllte den Bericht in seiner Hand und ließ ihn zu Boden fallen. »Sie war tot, als sie die Träume verließ. Sie hat nicht geatmet .«
»Das dachte ich auch.« Sein Seneschall sah krank aus. »Ich ließ sie von den Männern zurück nach Chicago bringen. Ich sagte ihnen, sie sollen die Leiche irgendwo ablegen, wo sie gefunden wird. Ich dacht e – wegen ihrer Familie. Sie hatte einen Bruder, einen Liebhabe r … «
Michael schlug Philippe mit dem Handrücken, sodass er gegen die Wand flog. Es war nicht genug, aber er gestattete sich nicht, seinen Seneschall bis zur Bewusstlosigkeit zu schlagen. Stattdessen lief er durchs Haus und hinaus in den abgeschiedenen Garten. Die Sonne sank, und ihre letzten Strahlen vergoldeten Hunderte von blühenden weißen Rosen. Er setzte sich auf die kleine gusseiserne Bank und starrte ins Leere, während sein Verstand zu begreifen versuchte, was geschehen war.
Michael hatte seit seinem menschlichen Tod im vierzehnten Jahrhundert als einer der Darkyn gelebt. Menschliches Blut war ihre einzige Nahrung, aber mit der Zeit hatten er und die, die wie er waren, gelernt, dass sie nicht töten mussten. Nur kleine Mengen Blut ließen sie überleben und verhinderten den Wahnsinn der Hörigkeit und die zerstörende Entrückung, die sie bei den Opfern auslöste. Es schützte auch das Leben der Menschen, von denen sie sich ernährten, denn man musste alles Blut eines Körpers aufsaugen, um die Raserei zu befriedigen.
»Sie hätte vor fünf Tagen sterben sollen«, sagte er zu Philippe, der ihm nach draußen gefolgt war. »Ich habe sie genommen. Ich habe sie in die Entrückung versetzt, und ich habe sie genommen.« Er konnte sie immer noch schmecken. »Oder war das eine
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