Darling, fesselst du schon mal die Kinder?: Das heimliche Tagebuch der Edna Fry
hatte gedacht, es würde schwierig werden, ohne Stephen an meiner Seite einzuschlafen, aber es war dann viel leichter als mit ihm im Bett.
Nach einem leichten Frühstück aus Lamajoghurt mit verschiedenen Beeren studierte ich die Broschüre, um mir eine Heilbehandlung auszusuchen. Ich entschied mich für eine Reflexzonenmassage, war aber enttäuscht, als der Therapeut nur mein Knie mit einem Hämmerchen bearbeitete.
Nach dem Mittagessen wollte ich mir eine Lichttherapie gönnen, aber die Therapeutin war anscheinend unerwartet an Schlafentzug verstorben. Die neue Geschäftsführerin sagte, sie hätte die Nacht zum Tag gemacht.
Stattdessen fasste ich mir dann ein Herz und probierte einen Einlauf aus – davon schwärmt Mrs. Wintonschon seit Jahren. Sie hatten die in allen möglichen Varianten anzubieten: Wasser und sogar Kaffee. Ich entschied mich natürlich für einen English-Breakfast-Tee. Ich muss schon sagen, die Behandlung treibt einem das Wasser in die Augen, ist schlussendlich aber ganz okay. Man hätte dazu allerdings einen Haferkeks reichen können.
27. November, Sonntag
Wurde frühmorgens von Schreien geweckt. Als ich Nachforschungen anstellte, erfuhr ich, dass ein Gast unglückseligerweise das Zeitliche gesegnet habe. Anscheinend hatte er das saisonal befristete »Nikolaus-Spezial« gebucht – Bart, Sack und Rute – und das im Haus verwendete Wachs nicht vertragen. Die neue Geschäftsführerin sagte, es sei nur ein Unfall gewesen. Das Personal hätte eine Liste der Gäste mit lebensgefährlichen Allergien erstellt, diese aber nicht eigens kontrolliert. Es habe sich definitiv nicht um Fremdeinwirkung gehandelt, insistierte sie.
Nach dem Frühstück zog ich wieder die Broschüre zu Rate. Ich hätte ja Lust auf die Haarpflege mit Gnusperma gehabt, aber ich nehme in der Öffentlichkeit nun mal nicht gern den Hut ab, also ließ ich mir nur schnell die Krempe bleichen. Zum Mittagessen gab es leider nur Sandwiches, weil der Küchenchef unerwartet in seiner Jojoba-Koriander-Suppe ertrunken war.
Den Nachmittag verbrachte ich dann lieber auf meinem Zimmer. Das schien mir das Sicherste. Und die Kreideumrisse im Foyer waren der Entspannung auch nicht gerade förderlich.
28. November, Montag
Keine sehr erholsame Nacht. Um Mitternacht wurde ich von einem Schrei geweckt, der mir das Blut in den Adern gefrieren ließ, um 1 Uhr von Schüssen und um 2 Uhr von einer Serie von Explosionen. Beim Frühstück verschüttete ich den größten Teil meines hypoallergenen Müslis, weil meine Hand so zitterte, und später konnte ich beim Auschecken kaum mit meinem Namen unterschreiben.
Ich war den Tränen nah, als die Dame an der Rezeption mir für den Aufenthalt dankte und fragte, ob ich es gelöst hätte. Ich fragte, wie sie das meine, und sie sagte, darum gehe es doch bei dem 3-M-Wochenende. 3-M? Ob sie nicht »Mmm« meine, fragte ich. Sie runzelte die Stirn und reichte mir ein Faltblatt. Ich starrte den Zettel in meiner zitternden Hand an und las. Typisch Stephen! Er hatte mir das Wochenendarrangement »Mysteriöse Meuchelmorde« gebucht.
29. November, Dienstag
Seltsamerweise habe ich trotz alledem den Eindruck, dass das Wochenende mir gutgetan hat. Ich habe Stephens Gesicht nirgends gesehen, wo es nichts zu suchen hatte, und ich fühle mich ruhig, entspannt und zurechnungsfähig. Ich fühle mich sogar so gut, dass ich ein Gedicht schreiben möchte. Schließlich zwitschert die Sonne, die Wolken scheinen, und nirgends ist ein Vogel am Himmel zu sehen.
30. November, Mittwoch
War beim Lyrikkurs und hab’ mein Gedicht »Arbeit allein macht Edna nicht glücklich« vorgetragen. Miss Wordsmith schien angemessen beeindruckt und kommentierte besonders »das effektvolle Mittel der Wiederholung auf den gesamten 37 Seiten«. Sie sagte sogar, es sei so kraftvoll und atmosphärisch dicht, dass es eine gute Idee wäre, mal das Tempo zu wechseln und sich eine Lesung ganz anderer Art anzuhören. Sie holte eine CD aus ihrer Tasche, legte sie in den CD-Spieler auf dem Tisch, lehnte sich zurück, schloss die Augen und wies uns an, ihrem Beispiel zu folgen, damit »die Worte über uns hinwegströmen und uns reinigen« könnten. Ich schloss die Augen und wartete. Und dann erklang eine Stimme: kühl, wohl artikuliert, einschmeichelnd – es war Stephen. Ich öffnete die Augen, stand auf und ging.
Ich weiß jetzt, was ich zu tun habe. Es gibt keinen Zweifel. Ich habe keine andere Wahl.
1. Dezember,
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