Darling, fesselst du schon mal die Kinder?: Das heimliche Tagebuch der Edna Fry
Donnerstag
Liebes Tagebuch, es tut mir leid, dass ich Dich gestern nicht in meine Pläne einweihen konnte. Ich durfte nicht riskieren, dass Du in die falschen Hände gerätst. Ich wusste, dass nur bei militärischer Präzision alles nach Plan laufen würde, also schritt ich zum Uhrenvergleich und wartete ab …
8:25
Kinder verlassen das Haus, gehen links die Straße hinunter Richtung Schule und machen sich nach einer 180-Grad-Kehre zu Brians Bowling-Center auf.
9:15
Stephen verlässt das Haus und geht auf seine Fensterputztour. Nimmt den Weg Richtung Trutsche in Nummer 38. Geschätzte Rückkehr zwischen 12:00 und 16:00, je nach Einnahmefrequenz der blauen Pillen.
9:23
Ich verlasse das Haus mit meinem besten Hut, in der Hand eine große leere Reisetasche.
10:46
Heimkehr mit großer Reisetasche, gefüllt mit Säge, leistungsstarkem Bolzenschneider, Flammenwerfer, Plastiksprengstoff und Buch:
Einbrechen für Anfänger.
11:15
Rückkehr zum Baumarkt, um besten Hut abzuholen.
11:28
Heimkehr. Gewaltloser Versuch, mir Zugang zu Stephens Schuppen zu verschaffen.
11:52
Gewalttätiger Versuch, mir Zugang zu Stephens Schuppen zu verschaffen.
11:53
Deponiere Reste der Schuppentür in betreffender Wertstofftonne.
11:58
Betrete Schuppen.
Ich trat in die Ruine von Stephens Schuppen und sah mich um. Ich traute meinen Augen nicht. Als sich der Qualm langsam verzog, erkannte ich auf einem kleinen lederbezogenen Schreibtisch einen Computer ganz wie den in meinem Traum von Fry Hall. Und daneben lagen stapelweise gebundene und schwer verkokelte Ausdrucke. Und nirgends eine Dose Bier oder ein Heft
Mächtige Melonen
zu sehen.
Ich fegte die Asche vom Stuhl und aus meinen Haaren und ließ mich auf den Stuhl sacken. All die Zeit, die Stephen im Schuppen verbracht hatte, hatte also gar nicht dazu gedient, das vollkommene Bier zu brauen. Aber was dann? Hatte er die ganze Zeit irgendwas geschrieben? Wie war das nur möglich? Bei seiner Abneigung gegen Literatur und insbesondere gegen Adjektive? Es ergab keinen Sinn.
Und dann fiel der Groschen – und die Mauer auf mich. Ein Bücherregal. Ich starrte zu Boden. Da lagen sie alle, zu meinen Füßen –
Lexikon der sinn- und sachverwandten Wörter, Sämtliche Werke von Oscar Wilde, Flora und Fauna am Poolrand von Stelios …
Und währendich mir noch die Beule rieb, fügten sich die Puzzleteile langsam zusammen – die langen Stunden in diesem Schuppen und auf der Straße, die Blackpool-Katastrophe, die Zeitungen unter dem Bett, Fry Hall, auf Schritt und Tritt Stephens Gesicht und Stimme …
Was sollte jetzt werden? Ich starrte den Computer an, die Bücher, die Papierstapel und die schwelenden Schuppenreste, und ich wusste, dass mir keine Wahl blieb. Ich musste ihn zur Rede stellen. Herausfinden, was das alles zu bedeuten hatte. Herausfinden, wer mein Mann eigentlich war.
12:09
Stephen kommt nach Hause, um mehr blaue Pillen zu holen.
12:10
Erkläre Stephen was von einem Gasleck.
2. Dezember, Freitag
Oje, Tagebuch. Wenn ich bloß wüsste, was ich tun soll. Ich habe das Gefühl, jahrelang eine Lüge gelebt zu haben. Genauer gesagt Stephen. Wenigstens weiß ich jetzt, dass ich nicht am Durchdrehen war. Obwohl das vielleicht sogar besser wäre. Einsam und verlassen würd’ ich mich dann zwar auch fühlen, hätte aber wenigstens einen feuchten Keks im Schuh. Ich glaub’, ich geh’ einfach wieder ins Bett. Das merkt ja eh keiner.
3. Dezember, Samstag
Ich hatte recht. Keiner hat’s gemerkt. Konnte mich auch heute Morgen nicht dazu bringen aufzustehen. Wozu soll das gut sein? Einmal kam Brangelina hoch und wollte wissen, wie es mir ginge und ob sie mehr Taschengeld haben könne. Stephen geht mir anscheinend aus dem Weg. Er hat nichts mehr über den Schuppen gesagt – beziehungsweise dessen Reste. Ich auch nicht. Ich weiß auch nicht, was ich sagen sollte. Ich kann mich nicht mal aufraffen, den Zettel zu lesen, den ich im Schuppen eingesteckt habe. Ich kann ihn genauso gut zerreißen und die Schnipsel auf den Boden streuen.
Ich wollte mich gerade zur Wand drehen und zum achten Mal wieder einschlafen, als ein seltsames Geräusch durchs Fenster drang. Erst hielt ich es für eine der üblichen Autoalarmanlagen, aber dann merkte ich, dass es melodischer war. Wenn auch nicht viel. Ich öffnete das Fenster und sah eine Gruppe von Jugendlichen, mit Kapuzen vermummt, die Hände in den Hosentaschen, die bei uns im Eingang standen und hin und her
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