Darling, fesselst du schon mal die Kinder?: Das heimliche Tagebuch der Edna Fry
faustdicke Anhaltspunkte zu Stephens Vorfahren liefern – und wer weiß zu was noch allem. Ich wartete, bis der Wachmann von einem Kind abgelenkt wurde, das auf dem Geländer der Prunktreppe herabrutschte (keine Ahnung, wer das war: Asbo oder Subo) und schlich mich an ein besonders prachtvolles Gemälde mit Goldrahmen am Fuß der Treppe heran. Ich sah mich um, und als ich mich unbeobachtet wusste, lüpfte ich eine Ecke des Tuchs, mit dem das Bild verhängt worden war. Ich konnte nur einen Fuß und die Signatur des Künstlers erkennen – ein Mr. Harris, glaubte ich zu entziffern –, also hob ich den Stoff weiter an, bis das Licht schließlich auf das Gesicht des Porträtierten fiel.
Ich musste einen Schrei unterdrücken, als ich die Gesichtszüge erkannte. Wer immer da auf der Heide stand, umgeben von Hirschen und Schrotflinten, war meinem Stephen wie aus dem Gesicht geschnitten! Mir wurde schwindlig, ich rannte zum nächsten Bild und betrachtete es. Auch hier strahlte mich Stephens unverkennbares Antlitz von der Leinwand herab an. Ich versuchte es beim nächsten Bild. Und beim übernächsten. Ob ein Gentleman im vollen Ornat, ein kleiner Junge an der Brust seiner Mutter oder eine alte Lady, die sich auf einer Brücke die Kehle aus dem Hals schrie – überall sah ich nur das einzigartige Gesicht meines Mannes!
Bevor ich Stephen von meiner Entdeckung erzählen konnte, schrillte plötzlich eine Alarmanlage los, durch die Lautsprecher dröhnte eine tiefe Stimme »Einbrecherwarnung«, und ein Dutzend Wachleute stürmte das Foyer. Schnell entschlossen schlüpfte ich durch eineTür mit der Aufschrift »Privat« und verriegelte sie von der anderen Seite.
Mein Atem ging stoßweise, und ich versuchte mich zu sammeln, während Fäuste an die Tür hämmerten. Hektisch blickte ich mich um. Ich musste in eine Art Arbeitszimmer gelangt sein. Auf einem ausladenden, lederbezogenen Schreibtisch stand ein Computer und summte leise. Ich umrundete den Tisch, ließ mich in einem großen Chefsessel nieder und starrte auf den Text auf dem weißen Bildschirm und den erwartungsvoll blinkenden Cursor. Ich kniff gerade die Augen zusammen, um zu lesen, was da stand, als ich hinter mir ein Scharren hörte.
Als ich mich umdrehte, schwang der Vorhang neben der Terrassentür leicht hin und her. Ich sah zu Boden, und unter dem Saum linsten zwei Turnschuhe hervor. Ich räusperte mich, und hastig wurden sie unter den Stoff zurückgezogen. Ich holte tief Luft, stand auf und ging darauf zu. Knisternd erwachte der Lautsprecher wieder zum Leben.
»Achten Sie nicht auf den Mann hinter dem Vorhang!«, dröhnte er.
Die Zeit verging im Schneckentempo, als sich meine Finger im Rand des Stoffs verkrallten.
»Tun Sie, was ich sage!«, donnerte die tiefe Stimme. »Der große und mächtige Fry hat gesprochen!« Ich riss den Vorhang beiseite. Dahinter stand mit offenem Mund und einem Mikrophon in der Hand … Stephen!
Alles drehte sich um mich, meine Beine versagten, und plötzlich wurde mir schwarz vor Augen …
Als ich aufwachte, war ich zu Hause. Lag in meinem Bett. Und Stephen und die Kinder beugten sich mit besorgten Mienen über mich.
»Aber … was? O Stephen«, murmelte ich. »Ich bin wieder da.«
Er sah die Kinder an und tätschelte mir sanft die Hand.
»Aber ich war fort. An einem wundersamen Ort. Und du warst da … und du … und du. Und du …«
Alle lachten.
Ich seufzte. Ich konnte nicht fassen, dass es alles nur ein Traum gewesen war – alles hatte so echt gewirkt. Aber wahrscheinlich stimmt das Sprichwort. Trautes Wolkenkuckucksheim, Glück allein.
21. November, Montag
Ach du meine Güte. Es tut mir leid, liebes Tagebuch. Ich habe nicht den blassesten Schimmer, was gestern bloß mit mir los war. Aber wenigstens konnte ich mal richtig ausschlafen – das erste Mal seit Ewigkeiten, wo ich mit Stephen doch nichts als Kummer hab’. Und mit Brangelina. Und Stephen junior. Mit allen, ehrlich gesagt. Aber wenigstens geht es mir jetzt besser. Ich glaube, ich geh’ ein bisschen spazieren. Einfach ein bisschen frische Luft schnappen. Oder jedenfalls Luft …
Das war ein schöner Spaziergang. Wenn die Sonne scheint, ist die Stadt gar nicht so schlimm. Nur der allgegenwärtige Abfall und die Graffiti stören – und der flächendeckendeUringestank. Und natürlich die ganzen wilden Plakate, die die schönsten Mauern und Busse tapezieren – einen Augenblick lang dachte ich sogar, ich hätte Stephens Gesicht auf dem 68er
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