Darling, ich bin deine Tante Mame! - Roman
nie ihre ganze Schönheit ein. Das blauschwarze Haar, die schwarzblauen Augen, die Rühr-mich-nicht-an-Perfektion ihrer Haut und Glieder, all das blieb der Kameralinse verborgen.
» Ah, da seid ihr ja, meine Schätzchen « , sagte Tante Mame leichthin, während ich mich mühsam hochrappelte. » Margot, Miranda, Melissa– mein Neffe Patrick. « Ich versuchte, etwas zu sagen, doch im selben Moment machten die drei einen tiefen Knicks in meine Richtung, als wäre ich Charles II. Die Geschmeidigkeit und Grazie dieser wundervoll anachronistischen Geste überwältigten mich dermaßen, dass ich rückwärts in meinen Sessel kippte.
» Betrunken! « , murmelte Tante Mame und verwickelte die drei Schönheiten umgehend in eine New-England-typische Konversation.
Glücklicherweise war der Hofstaat an dem Abend nicht zum Diner bei Gouverneur Winthrop oder John Alden oder Boss Curley eingeladen, deswegen bat Tante Mame mich, zum Abendessen zu bleiben– aber nur, wenn ich vorher einen Smoking anziehen würde. Als ich bei Mickey the Mick’s in Abendgarderobe die Treppe heruntergeschritten kam, warf mir Pegeen einen mitleidigen Blick zu, und die Einwohner pfiffen hinter mir her, als ich bei helllichtem Tag in Lackschuhen die staubige Straße entlangging. Mir sollte es egal sein. Mich hielt allein der Gedanke aufrecht, zu Tante Mame und ihrer Klosterschule für Göttinnen zurückzukehren.
Wieder wurde ich an diesem Abend nach dem Portwein allein gelassen, während Tante Mame ihre Schwäne in den Salon scheuchte, und um zehn Uhr wurde ich sozusagen fristlos entlassen, nicht jedoch ohne vorher entdeckt zu haben, dass jedes der Maddox-Mädchen nicht nur Schönheit und Klugheit besaß, sondern auch ein Individuum für sich war. Margot war die Literaturinteressierte, und sie sprach sehr gepflegt und eloquent über Kafka. Miranda malte Bilder und machte Fotos. Melissa kannte sich hervorragend mit Musik aus. Ich war nicht betrunken– mit dem Zeug, das Tante Mame in jenem Sommer servierte, war das schlecht möglich–, aber ich fühlte mich trunken, als ich in meinem Zimmer bei Mickey the Mick’s ins Bett sackte. Margot, Miranda, Melissa, dachte ich; Melissa, Miranda und Margot. Mit Bildern dieser drei Sirenen, die mir im Kopf herumschwirrten, schlief ich ein.
Nachdem das Eis gebrochen war, gestattete man mir, regelmäßig ins Haus der Maddox zurückzukehren, doch Tante Mame gerierte sich als strenge Anstandsdame, und die drei Schwestern waren unter den Sprösslingen der wichtigen Bostoner Familien, die auf Maddox Island den Sommer verbrachten, offenbar sehr gefragt. Wurde ich dennoch mal ins Haus gebeten, stand ich unter dauernder Beaufsichtigung von Tante Mame. Die Mädchen waren aufgefordert– auch wenn sie nicht der Aufforderung bedurften–, sich jeden Morgen ihren Studien zu widmen. Das Leben im Haus der Maddox verlief in festen Bahnen. Den Tag verbrachte man am Strand, unterhielt sich über intellektuelle Themen, wie zum Beispiel das japanische Theater, englische Madrigale, die Skulpturen von Henry Moore, die Bedeutung metallischer Garne in modernen Textilgeweben, die unveröffentlichten Werke von Morton Gould, die interessanten Muster, die sich durch Batik ergeben, die wilde Schönheit der Stimmen schwindsüchtiger Mexikaner, Katina Paxinou Elektra rezitierend, die Kostümentwürfe einer Zehnjährigen aus einer Erziehungsanstalt in Rhode Island. Ferner lobte man gegenseitig seine Begabungen. Miranda malte im Stil von Eugene Berman » Mame am Mausoleum « , » Margot melancholisch « , und machte Fotos im Stil von Cecil Beaton, » Mame zwischen Kerzen « , » Melissa Morte « und » Mame und Margot als Wassernymphen « . (Nachdem das Bild, das auch noch schlecht war, im Kasten steckte, stank Tante Mames Haar tagelang nach Seetang.) Miranda bat mich, ausstaffiert mit Schnittware und Haarteilen, die sie beim Stöbern in irgendeiner Rumpelkammer gefunden hatte, als schlafender Faun, als florentinischer Page, als spartanischer Läufer und in noch anderen Posen, die mir allesamt peinlich waren, für sie Modell zu stehen.
Eines Morgens, als wir allein am Strand waren, schenkte Miranda meinem Körper, der sich, wenn ich das sagen darf, bis heute ganz gut gehalten hat, einen auffordernden Blick. » Fänden Sie es sehr impertinent von mir « , sagte sie, » wenn ich Sie darum bäte, nackt für mich Modell zu stehen? Ich kann mir nämlich nie ein richtiges Modell leisten… «
Ich war wie vor den Kopf geschlagen, und der Puls in
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