Darling Jim
erinnerst, hat nichts und niemanden gesehen außer mir. Sie hatte einfach Glück. Falls du eine geheimnisvolle Antwort aus meiner Kindheit erwartet hast, muss ich dich leider enttäuschen.«
Fiona schien in sich hineinzuschauen, und was sie da sah, gefiel ihr gar nicht, wie ich merkte. Als sie den seanchai wieder anblickte, verrieten ihre Augen mehr über ihren Seelenzustand, als ihr lieb gewesen wäre. Endlich stellte sie die Frage, die ihr wirklich unter den Nägeln brannte. »Warum hast du dann mich nicht getötet?«, fragte sie und verkniff sich den Zusatz, dass er sie ja schließlich auch nicht richtig geliebt hatte.
Jims Lächeln war weder freundlich noch reumütig. »Das war nicht nötig«, sagte er.
»Also war der Wolf gegen seine Natur so machtlos wie du?«, fragte Aoife und umfasste den Gewehrkolben fester. »Ein Sklave seines Wesens, was? Geschaffen, um zu laufen und zu töten, auch wenn die Liebe einer guten Frau ihn erlösen könnte? Himmelherrgott, du bist wirklich erbärmlich. Das ist nicht einmal ein gutes Ende für die Geschichte, sondern nur eine billige männliche Sex-Phantasie.«
Achselzuckend zerknüllte Jim seine leere Zigarettenschachtel und warf sie beiseite. Der Zuckerguss auf seiner Stimme war abgebröckelt und hatte nur rostigen Stahl hinterlassen.
»Ich habe das Ende für euch drei aufgespart«, sagte er. »Ihr habt es verdient. Hatte noch nie ein Publikum, das so bereitwillig ... «, er grinste wieder, »mitgemacht hat. Heute Abend liege ich gemütlich, sicher und lebendig im warmen Bett eurer Tante, und ihr werdet euch fragen, warum ihr im letzten Moment die Nerven verloren habt.« Er zeigte auf Aoife. »Ganz im Ernst. Du hättest mich schon vor Ewigkeiten erschossen, wenn du es wirklich gewollt hättest. Und das Gleiche gilt auch für deine rachsüchtigen Furien von Schwestern.«
Mein Blick traf Fionas. Wir warteten beide darauf, dass die andere etwas unternahm. Irgendetwas. Ich schämte mich wie noch nie in meinem Leben. Und nichts passierte.
»Aber am Ende fangen die Jäger Euan sicher doch noch«, sagte ich und umklammerte das Messer so fest, dass mir sogar der Griff die Hand aufschlitzte. »Und dann knüpfen sie sein räudiges Fell am nächsten Baum auf.«
Jim grinste mich anerkennend an. Eine Zuhörerin, die selbst ein Ende erfindet. Alle Achtung. »Leider nicht, Schätzchen«, sagte er fast bedauernd. »Euan wurde nie gefunden; Reisende sahen danach nur einen grauen Schatten durch die Bäume huschen und fürchteten um ihr Leben. Nach Aislings Tod fiel die Festung des Wolfes bald den Feinden in die Hände, die keinen Stein auf dem anderen ließen. Aber sie erlaubten den besiegten Soldaten, aus dem Holz des schwarzen Tores einen Sarg für die tote Prinzessin zu zimmern.«
Er sah Aoife mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck an.
Ich weiß nicht, ob ich mich noch richtig erinnere, aber er wirkte müde oder sogar resigniert. Wie ein Tier, das den Pfeil heransausen spürt.
»Und was mich angeht?« Er holte tief Luft und sagte meiner Zwillingsschwester: »Du weißt, warum ich dich gewählt habe, nicht wahr? Nicht die anderen? Nicht nur, weil ich wusste, dass du schon mit der halben Stadt gevögelt hast und keinen Verdacht schöpfen würdest. Nein. Ich habe dich gewählt, weil ich dich damit viel mehr verletzen konnte als die anderen, besonders hinterher. Fiona ist viel stärker, als sie glaubt, und dein Schwesterchen steht ja ohnehin auf Mädels. Aber das Geräusch, das du gemacht hast, als ich dich umgedreht und ge-aaaaaaagh! ... «
Ich hatte ihm das Messer bis zum Heft in die Brust gerammt, bevor ich überhaupt merkte, was ich da tat. Ich riss es wieder heraus und stach noch einmal zu. Blut spritzte mir ins Auge, und ich wischte es weg wie klebrigen Regen. Ich spürte nichts. Ich verstand nichts. Mein Blut pochte und erzählte mir Dinge, die ein Wolf vielleicht verstanden hätte, ich aber nicht hören wollte.
Jemand nahm mir das Messer aus der Hand. Ich glaube, es war Fiona, weil ich sah, wie sie sich selbst über Jim beugte und den Arm wieder und wieder nach unten sausen ließ. Sie hörte erst auf, als Aoife ihr eine Hand auf die Schulter legte.
Die Sonne glitzerte auf etwas Rotem, Metallischem, und ich drehte mich in die Richtung. Auf meinem Weg zu der 1950er Vincent Comet, die am Ende des Piers parkte, stolperte und fiel ich mehrmals. Auf dem Benzintank war nicht mal Fliegendreck, und als ich die Maschine hin und her schaukelte, hörte ich die Flüssigkeit gluckern.
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