Darling Jim
aufgestiegen, durch das Loch in meinem Herzen, dass ich bislang mit Hass gestopft hatte.
»Aber dann bekommt Roisin ja gar keine Antwort auf ihre Frage«, sagte Jim und schälte ein Stück Rinde vom Baumstamm ab. »Ist das nicht schade, mein Röschen?«
»Halt's Maul!«, keuchte ich und ging mit erhobenem Messer auf ihn zu.
»Wovon spricht er, Rosie?« Aoife hatte die Waffe in ihrer Hand vergessen und sah mich mit dem Hauch eines Zweifels an.
»Von nichts«, sagte ich mit vor Scham brennenden Wangen und wedelte mit dem Messer. »Drück ab und erledige ihn. Sonst mache ich es.«
»Wartet«, sagte Fiona außer Atem, obwohl sie dagestanden hatte, ohne einen Muskel zu bewegen. Sie legte eine zitternde Hand an den Mund.
Und der gute Jim? Der grinste wie ein Honigkuchenpferd.
Mein Gott, war der gut. Eine todsichere Exekution in ein mentales Flipperspiel zu verwandeln und dabei selbst den Automaten kurz vor dem Bonusspiel zum Tilten zu bringen war eine beachtliche Leistung.
»Was soll das heißen?«, fragte Aoife und verlagerte ihr Gewicht von einem knallpinken Kampfstiefel auf den anderen. Ihr vorher so gesund aussehendes Gesicht war inzwischen fahl geworden. Sie hob das Gewehr noch einmal und richtete es auf Jims hübsche Frisur. »Sagt mir vielleicht mal jemand, was ... «
»Ich wollte ihn vorher noch etwas fragen«, erklärte Fiona und sah uns an, als hätten wir sie im Supermarkt beim Klauen für die Familie erwischt.
»Sarah ist dir doch völlig egal«, sagte Jim zu ihr, ließ sich mit dem Rücken zum Baumstamm nieder und machte es sich bequem. »Genau wie Lama Hilliard, Mary Holland und die anderen flachsblonden Seelchen, die meinen Weg gekreuzt haben. Willst du wirklich wissen, warum sie sterben mussten? Frag ruhig.«
Fiona blickte für den Bruchteil einer Sekunde zur Seite, und er fuhr fort, einen unsichtbaren Keil zwischen uns zu treiben, der wie ein glühendes Skalpell brannte. »Du willst etwas anderes wissen. Was dich und mich angeht. Warum ich abgehauen bin und nicht dich, sondern zuerst die kleine Kelly und dann deine Tante beglückt habe. Stimmt's?«
Mit einem lauten Klick spannte Aoife beide Hähne der guten alten Flinte unseres Dads. Die Pause war vorbei, der Hauptfilm ging weiter. »Ihr redet alle zu viel.«
»Wie entscheidet er sich?«, hörte ich mich den Mann fragen, den ich mit meinen eigenen Händen töten wollte, wie ich mir gestern geschworen hatte. »Wird er sie lieben oder töten? Oder spielt das keine Rolle?«
Sogar Aoife blinzelte einmal kurz, bevor sich ihr Finger wieder um den Abzug spannte. »Oh, der. Der tötet«, sagte sie. »Das garantiere ich euch.«
Jim faltete die Hände wie ein Schamane, legte den Kopf schief, als habe er man ihm gerade eine universelle Wahrheit ins Ohr geflüstert. Weit hinter ihm führte jemand am Strand seine beiden Deutschen Schäferhunde spazieren. Anscheinend hatte er den Schuss also nicht gehört. Ein Hund sprang in die Wellen und holte ein Stöckchen. Tick, tack, dachte ich. Uns geht die Zeit aus.
»Gebt mir zehn Minuten«, sagte er und starrte in die zwei Mündungen der Flinte. »Ich werde heute sterben, und womöglich verdiene ich das sogar. Aber wenn ihr mich noch zehn Minuten unter diesem Baum sitzen lasst, dann erzähle ich euch, wie die Geschichte endet. Meine eigene und die von Prinz Euan.«
Das Gebell der Hunde drang zu uns, und ich glaubte, das Blutlied des Wolfes in meinen Ohren rauschen zu hören. Aoife dachte nach, und Fiona nickte ihr zu.
»Fünf Minuten«, sagte Aoife, senkte die Flinte aber nicht. »Und dann ist Sense.«
»Anspruchsvolles Publikum«, sagte der seanchai trocken und deutete auf ein offenes Feld, das sich von hier bis beinahe zur Stadt erstreckte. »Aber wie ihr wollt. Nehmen wir einmal an, die Festung des Wolfes hätte dort gestanden. Stellt sie euch vor. Die Fahnen flattern im Wind, es ist früher Abend, und wir blicken in den höchsten Burgturm hinein.« Seine Stimme wurde leise und monoton und schien aus ferner Vergangenheit zu uns zu dringen. »Ein Wolf steht vor einer schönen Frau, die völlig schutzlos ist. Es ist Prinz Euan, der sich gerade zwischen einem Leben als gejagtes Raubtier und einem Leben als Mensch, der nie ganz menschlich war, entscheiden muss. Er hat vor der Prinzessin gekauert, aber nun erhebt er sich. Und sie kann ihr Schicksal in seinen Augen lesen.
XVIII.
„Spürst du es, Vetter?“, fragte Aisling und beobachtete, wie der Mann vor ihr sich so langsam aufrichtete wie ein lahmer
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