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Darling Jim

Darling Jim

Titel: Darling Jim Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Mork
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ging ich immer ins Badezimmer, wenn sie mich aus der Fassung brachte, und verließ es erst wieder, wenn meine Augen trocken waren. Ich will das nicht entschuldigen, ich bin nun mal einfach so. Aber in jenem Moment, das gebe ich ohne Scheu zu, war es das schönste Gefühl der Welt, Aoifes Finger wieder zu berühren. Fiona war klug genug, den Mund zu halten und den Augenblick nicht zu zerstören.
    »Was hast du dann getan?«, fragte ich.
    »Gebt mir ein bisschen Zeit, dann erzähle ich euch alles«, sagte Aoife und schniefte selbst ein bisschen. Ich spürte, dass ihre Hände so rau waren, als würde sie ihr Geld durch Geschirrspülen verdienen. »Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Aber ich werde eine Weile bleiben, wir haben also jede Menge Zeit.«
    Ich faltete das Blatt mit Tante Moiras Drohung so langsam wie möglich auseinander und sah, wie sich die Gesichter meiner Schwestern anspannten. Der Kranich, den ich aus dem Brief unserer Tante gefaltet hatte, öffnete sich zu einem Boot. »Die haben wir leider nicht«, sagte ich und spürte, wie die letzten Überreste von Freude und Sicherheit, die noch in meinem Inneren herumschwirrten, zu Stein erstarrten. »Wir fahren nämlich nach Malahide.«
    Bei der Zugfahrt sprachen wir nicht viel.
    Der Morgenzug von Cork City war an jenem Tag rappelvoll, und der Dampf, der aus den nassen Kleidern der Passagiere aufstieg, ließ die Fenster beschlagen wie in einem russischen Badehaus. Meine Schwestern und ich fanden eine Nische, die so weit wie möglich vorn Speisewagen entfernt lag. Hätte nämlich irgendjemand zufällig unsere stockende Unterhaltung mitbekommen, dann hätte er sofort die Notbremse gezogen und uns auf die nächste Polizeiwache verfrachtet.
    Vergiss bitte nicht, dass wir keine hart gesottenen Kriminellen waren, sondern drei Mädchen, die einfach nicht anders handeln konnten. Gut möglich, dass das die beliebteste Ausrede ist, die hart gesottene Kriminelle dem Richter präsentieren, aber das ist jetzt auch egal. Versetz dich in unsere Lage, dann wird die innere Logik klarer. Lieben oder töten? Kannst du dich an die Frage erinnern? Und wenn man einmal getötet hat, ist es nicht mehr unvorstellbar, es noch einmal zu tun.
    »Ich habe keine Waffe dabei«, sagte ich den beiden mit leiser Stimme und lächelte zwei ältere Herren an, die sich auf der gegenüberliegenden Seite des Ganges eine Packung Chips teilten.
    »Halt die Klappe, du Idiotin!«, flüsterte Fiona wütend. Sie hatte uns für die Reise Sandwiches und Tee gemacht, genau wie früher, wenn sie uns babysittete und für uns »kochte«.
    Aoife blieb fast bis zur Endstation stumm. Die vergangenen drei Jahre hatten sich tief in ihrem Gesicht eingegraben, aber diese Falten des Leides erzählten nicht die ganze Geschichte. Tritt mich, wenn das jetzt zu kitschig wird, aber sie strahlte außerdem eine solche Gelassenheit aus, als hätte sie jeden Tag bei Father Malloy gebeichtet. Sogar Tante Moiras Drohung schien sie nicht aus der Ruhe zu bringen. Sie ließ keinen Zweifel daran, dass sie mit Fiona und mir nach Dublin gehen würde, obwohl sie irgendwo ein phantastisches Versteck haben musste. »Alle für einen«, hatte sie gesagt, als sie beim Bahnhof anrief und unsere Fahrkarten reservierte. Irgendetwas hatte ihren tiefsten, innersten Wesenskern verändert, und es war nicht der Mord. Es war ein leuchtendes Geheimnis, das sie bislang noch für sich behielt.
    »Ich muss euch etwas zeigen«, sagte sie schließlich, als unser Waggon sich in Mallow, kurz vor Dublin, beinahe vollständig leerte.
    Fiona und ich beugten uns zu ihr und sahen, dass sie etwas in der Hand hielt.
    Ein Männerportemonnaie.
    »Ich habe es Jim aus der Tasche gezogen«, sagte sie, und die Erinnerung ließ ihr den Atem stocken. »Keine Ahnung, wieso ich das Ding behalten habe.«
    Das karamellfarbene Leder war speckig und abgetragen, und ich konnte es kaum erwarten, die Börse zu öffnen. Aber ich überließ Aoife diese ehrenvolle Aufgabe. Ich sah nichts Unerwartetes, nur Rechnungen und ein paar Banknoten. Dann zog meine Zwillingsschwester Jims rosafarbenen Führerschein aus einer Plastikhülle. Jawoll, das war er. Weiße Zähne und tief liegende Verführeraugenbrauen inklusive. Aber der Name gehörte einem Fremden, und das überraschte mich nicht im Geringsten.
    »Er heißt also Jim O'Driscoll, was?«, sagte ich.
    »Hieß«, korrigierte Fiona, die alte Schulmeisterin. »Was ist noch drin?«
    Aoife leerte den restlichen Inhalt in ihre Handfläche.

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