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Darling Jim

Darling Jim

Titel: Darling Jim Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Mork
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Eine alte Fahrkarte und eine Telefonkarte ohne Guthaben. Mir fiel sofort auf, dass der Geldbeutel immer noch fast genauso dick war wie vorher. Ich pulte mit dem Finger unter dem Führerschein herum und spürte etwas, das durch Schweiß am Leder festklebte.
    Ein gefaltetes Blatt Papier, alt, vergilbt und porös, gelangte ans Tageslicht.
    »Was ist das?«, fragte Fiona mit gesenkter Stimme, denn der Schaffner drehte gerade seine letzte Runde vor Feierabend.
    Sorgfältig entfaltete ich die geheimen Phantasien des einzigen Mannes neben meinem Vater, der mich jemals interessiert hatte. Das Papier gab nur widerstrebend nach, als wehre es sich gegen unsere Bemühungen. Aber schließlich enthüllte es, wovon der alte Jim zwischen seinen Morden geträumt hatte.
    Es war eine handgezeichnete, altmodische Schatzkarte. Sie erstreckte sich über das ganze Blatt und sah aus, als habe ein Kind sie gemalt. Im Norden stand ein kleines Strichmännchen mit einem Krückstock vor unüberwindlichen Eisgebirgen. Am unteren Rand lag neben einem Ozean voller Riesenkraken eine weibliche Gestalt mit gebrochenem Genick auf einem Pfad am Strand.
    »Lieber Himmel, sie sieht aus wie Sarah«, sagte ich, und der Schaffner blickte in meine Richtung. Ich lachte und kicherte wie das Girlie, das ich nie gewesen bin, und er lief kopfschüttelnd weiter.
    Nahe am östlichen Blattrand zeigte die Landkarte einen Wald mit verkrüppelten Eichen und Zauberern mit spitzen Hüten, aus deren Fingerspitzen Blitze drangen. Holde Jungfern flüchteten vor Wölfen, die aussahen, als hätten sie vor Sonnenuntergang noch ein Festmahl vor sich.
    Aber mich faszinierte ein anderes Detail, schlecht gezeichnet und verschmiert.
    »Das ist eine Burg«, sagte ich und hielt das Blatt ins Licht. Ich hatte recht. Jim hatte das Tor mit Edding schwarz ausgemalt, und auf der Zugbrücke saß eine Gestalt, die an etwas herumspielte, das vielleicht ein Transceiver war. Eine männliche Gestalt, glaube ich. Spiralförmige »elektromagnetische Wellen« stiegen von seinem Kopf auf. Und ja, du hast richtig gehört, er saß dort, und es gab einen triftigen Grund dafür, dass er nie wieder aufstehen würde.
    Seine Beine waren gebrochen. Beinahe so, als sei jemand mit Absicht darübergefahren und habe ihn zum Sterben zurückgelassen. Ich erinnerte mich an Jims Märchen. Ein Prinz mit magischen Kräften. Er ist gerade von seinem Pferd gestürzt. Sein Bruder Euan wird ihn töten und ihm die Krone stehlen. Der Name des sterbenden Prinzen ist ... verdammt, ich weiß es nicht mehr.
    Und neben dem Zug signalisierten uns die ersten Betonpfosten von Dublin, dass wir bald im Feindesland ankommen würden.
    »Die nächste Station ist Dublin Heuston« , erklang die gelangweilte Stimme des Schaffners. »Dieser Zug endet hier. Danke, dass Sie mit Iarnr6d Eireann gefahren sind.«
    Uns kam es vor, als käme der Zug direkt in den Mauern des Dochas-Gefängnis zum Stehen, dessen schwarzes Tor sich gleich für immer hinter uns schließen würde.
    Als wir noch klein waren, erzählte uns Mutter immer die gleiche Art Gutenachtgeschichte, besonders wenn uns irgendetwas erschreckt hatte. Sie verlief immer ungefähr gleich, zog sich aber in die Länge, wenn wir gegen Ende immer noch heulten und noch ein bisschen mehr Mut und Hoffnung brauchten, um die Monster unter dem Bett zu verscheuchen.
    Wir wollten immer, dass sie uns die Geschichte erzählte, in der wir schrecklichen Gefahren trotzten und am Ende als Heldinnen siegten. Alles andere wäre doch langweilig, oder? Zuerst versuchte es Mutter immer mit entschärften Versionen, in denen Einhörner sich mit Elfen tummelten. Oder ähnlicher Mist. Aber schließlich gab sie immer nach und erzählte diejenige, in der die Dunkelheit Augen hatte.
    »vor langer, langer Zeit lebten einmal drei mutige Mädchen, genau wie ihr drei«, begann sie, zog uns die Daunendecken bis zum Kinn hoch und schaltete ein Nachtlicht an. »Sie wohnten in einern Baumhaus, tief im Inneren des verzauberten Waldes. Die Elfen und Tiere freuten sich über ihre freundlichen Nachbarinnen. Nur die Trolle, die das Dunkle liebten und sich während des Tages unter Steinen versteckten, machten in der Nacht Jagd auf die drei Schönen. Also mussten die drei Schwestern dafür sorgen, dass ihr Haus nach Sonnenuntergang hell erleuchtet war ... «
    Sie erzählte weiter, dass die drei Mädchen jeden Abend in den Himmel sprangen und versuchten, mit ihren Schmetterlingsnetzen genug Sterne einzufangen, um ihr Schlafzimmer

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