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Darling Jim

Darling Jim

Titel: Darling Jim Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Mork
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über das Publikum bestätigen, erhob sich Moira halb und drehte den Kopf in meine Richtung. Ich duckte mich nicht schnell genug, und die Augen, die mich immer noch manchmal an Mutter erinnerten, hefteten sich auf mich. Statt zu lächeln, sah sie mich so abschätzend an, wie ein Preisboxer vor einem Titelkampf seinen Gegner ansieht. Du oder ich? Ich kenne keine Gnade und verlange auch keine.
    Ich schwöre bei Jesus Christus, die Frau starrte mich an, als wünschte sie, ich wäre tot.
    »Wie geht es euch allen heute Abend?«, schnurrte eine Stimme, die ich so gut kannte, dass mein Magen Purzelbäume schlug und ich nicht wusste, wie mir geschah. »Super!«, antworteten die Zuhörer im Chor.
    Ich konnte Jim nicht sehen, aber das war mir egal. Tante Moira wandte den Blick ab und richtete ihre Aufmerksamkeit auf die Gestalt im Rampenlicht, die allen Damen im Raum wahrscheinlich gerade ihr verführerischstes Lächeln schenkte. Ich hörte, wie ein Barhocker zurechtgerückt wurde, Jim hustete einmal, und es senkte sich sofort eine Stille über den Raum, die beinahe ohrenbetäubend war.
    »Habt ihr euch je gefragt, warum man einem Wolf niemals vertrauen darf? «, fragte er.

X.
    »Das Raubtier, das einmal Prinz Euan gewesen war, hatte gerade zum ersten Mal Menschenblut gekostet.
    Es war unabsichtlich geschehen, denn die beiden vergangenen Winter hatten ihn gelehrt, wie gut sich die Kreaturen, die auf zwei Beinen liefen, zu verteidigen wussten. Erst letzten Neumond, als der Wolf sich gerade an seiner Beute, einem kleinen Reh, weidete, hatten ihn die kehligen Geräusche, die Menschen von sich gaben, aufgeschreckt. Als er den Kopf drehte, sah er drei Gestalten in ledernen Joppen, die geschliffenen Stahl in den Händen trugen. Das trockene Herbstlaub raschelte unter ihren Schritten, und er hörte den Herzschlag aller drei Männer. Einen Moment lag war er versucht, sich auf sie zu stürzen, aber dann sah er das Netz, das ein vierter Mann, der sich von der anderen Seite näherte, vor sich hertrug. Der größte Mensch gab ein lauteres Kehlgeräusch von sich, und Euan der Wolf schlug einen Haken nach rechts, dann einen nach links und flüchtete genau zwischen den gespreizten Beinen des Mannes durch.
    Auf seiner Flucht kam er an einem kleinen Küstendorf im Nirgendwo vorbei, das der Mensch in ihm Allihies genannt hätte, wenn er noch Erinnerungen an die Zeit gehabt hätte, in der er selbst auf zwei Beinen gegangen war. Dort sah er noch mehr Dinge, zu denen Menschen fähig waren. Männer in schwarzen Lederwämsern hatten sich um einen Galgen am Straßenrand geschart. Die Landschaft am Rande der Klippen war so öd und karg, dass nur gelbes Moos in den Spalten der Felsen wuchs, die wie riesige Daumen aus der Erdoberfläche staken. Die Jäger zerrten zwei lebendige Wölfe hinter sich her, hängten sie in aller Ruhe an den Hinterbeinen auf und prügelten sie dann langsam zu Tode. Euans Artgenossen wimmerten wie die Katze, die er selbst vor ein paar Tagen aus reiner Jagdlust getötet hatte. Nein. Es war schlimmer. Sie hatten gewimmert wie Menschenbabys.
    Er hatte sich versteckt. Das Wimmern war unerträglich, aber er sah keine Möglichkeit zur Flucht.
    Und er spürte eine Furcht in sich, die sogar noch abgrundtiefer war, als ihm der alte Wolf aus dem Wald versprochen hatte.
    Er kauerte sich hinter die Felsen und verbarg sich im spärlichen Gras, als die Männer schließlich ihre Pferde bestiegen und den Pass hinaufritten, von dem sie gekommen waren. In Euans Augen brannte der Hass, und mit zitternden Läufen kroch er näher zum Galgen. Schließlich stand er ganz dicht vor den toten Wölfen, deren Mäuler weit aufgerissen waren. Das Leben sickerte rot aus ihnen heraus. Die kantigen Gesichter waren angeschwollen, und wo die Augen hätten sein sollen, sah er nur schwarze Höhlen. Er sah noch einmal hin und rannte dann schnell weg, bis das Hämmern seines Herzens die Rachegelüste in seinem Kopf ausgelöscht hatte.
    Das Menschenblut rief ihn ganz zufällig ein paar Tage später zu sich.
    Es war Mittag gewesen, als er auf einer Lichtung bei der alten Burg mit dem schwarzen Tor ein Reh entdeckte. Euan wusste nicht, warum, aber der Anblick der verfallenden Türme erfüllte ihn mit Schrecken. Inzwischen kamen zwar seltener Reiter aus der Burg, aber sie alle hatten Netze. Dennoch lockten ihn die scharfen Trompetenklänge an, die aus dem Inneren drangen, und er lauschte auch gerne den seltsamen Seufzern, die er manchmal aus den kleineren Fenstern im

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