Darling Jim
hell, dass die Bäume sich vor dem Himmel deutlich abzeichneten. Wen Jim wohl heute Abend beglücken würde?
»Kann ich mir morgen Abend den Benz ausleihen?«, fragte ich Aoife mit einem Lächeln. »Es ist Sonntag, und ich erstatte dir das, was du sonst an deinen zwei schäbigen Fahrgästen verdient hättest. «
»Kein Problem«, sagte Aoife und fuhr sich mit den grün lackierten Fingernägeln durch das raspelkurze Haar.
»So gut?«, spottete Rosie und versuchte, meinen Blick einzufangen.
»Ihr habt ja keine Ahnung«, sagte ich und versuchte, die Vision von Sarah McDonnells zerstörtem Gesicht beiseitezudrängen, die plötzlich vor meinem inneren Auge erschien und drohte, mein Steak wieder ans Tageslicht zu befördern.
Als ich das uralte Stahlschiff meiner Schwester am Auld Swords vorbeisteuerte, sah ich, dass sich vor dem Eingang bereits eine Schlange gebildet hatte.
Die Telefonleitungen mussten seit vorgestern heiß gelaufen sein, denn ich sah weitaus mehr Lippenstift als Bartstoppeln auf den erwartungsvollen Gesichtern, die in ihren Geldbörsen nach Kleingeld kramten. Auch Bronagh war wieder da, allerdings in Zivilkleidung. Sie verhielt sich bemüht unauffällig. Ich sah auch noch mindestens drei andere Frauen, die ich von zu Hause kannte. Je länger ich in der Schlange stand und auf Einlass wartete, desto lauter und aufgeregter wurde das Gemurmel, als der Beginn der Veranstaltung näher rückte. Von dem sintflutartigen Regen, der auf uns niederprasselte, ließ sich niemand stören. Ich hörte Worte wie »sexy« und »absolut tödlich« und wusste, dass sie nicht den Kellnerinnen galten.
Als auf der Straße ein grollendes Dröhnen hörbar wurde, drehten sich alle Köpfe in die Richtung, aus der es kam.
Jim wirkte noch selbstsicherer als vorgestern Abend. Er fuhr bis direkt vor den Eingang, zwinkerte den Anwesenden zu und parkte seine beeindruckende Maschine. Frauen, die sicherlich mehrfache Großmütter waren, fielen bei seinem Anblick beinahe in Ohnmacht.
»Wie geht's, Ladys?«
»Wir warten auf das zweite Kapitel, Söhnchen«, sagte eine rotwangige, rundliche zweifache Mutter, deren pubertierende Töchter den seanchai mit einem Blick fixierten, der viel erwachsener war als der billige blaue Glitzerlidschatten, den sie trugen.
»Dazu kommen wir gleich«, sagte Jim und schlüpfte in die Bar, um seinen Auftritt vorzubereiten. Er hatte ein frisches T-Shirt angezogen, das sogar noch enger saß als das schwarze, an das sich meine Hände bereits gewöhnt hatten.
Ich versteckte mich hinter einer hochgewachsenen Frau im Regenmantel, als Tomo ihm durch den Türrahmen folgte. Der grimmige Assistent versuchte nach Kräften, die Damen ebenfalls zu bezaubern, aber Jims Charme färbte anscheinend nicht auf ihn ab. Sein Gesicht verdüsterte sich zunehmend, und sein halbherziges Lächeln machte bald einem verächtlichen Schmollen Platz. Die beiden verschwanden im Inneren des Pubs. Ein paar Minuten später wurden die Gäste hereingelassen, und sie strömten in die Kneipe wie Sprudel aus einer Flasche, die heftig geschüttelt worden war.
Ich weiß nicht genau, warum, aber ich suchte mir einen Platz ganz hinten im Raum, zwischen einem defekten Zigarettenautomaten und drei Girlies, die so aufgedreht waren, als hätten sie ein paar Lines Koks gezogen. Der Raum war niedrig und die Decke aus Blech, aber das dämpfte die Stimmung keineswegs. Ich hörte, wie Tomo das Mikrofon und die Anlage einstellte, die zunächst nur gellend quietschte. Von meinem Barhocker aus sah ich nur Frauenschultern, Frauenhälse und gestylte Frisuren. Ich verstand mich selbst nicht. Warum ging ich nicht einfach ganz nach vorne und ließ Jim sehen, dass ich da war? Ich kam mir allmählich bescheuert vor, also stand ich auf und bahnte mir einen Weg durch die Menge.
Da sah ich meine Tante Moira.
Sie saß an einem Tisch direkt vor der Bühne und trug die tropfenförmigen Ohrringe, die sie von Mutter geerbt hatte. Offensichtlich wusste sie noch, wie man Lippenstift aufträgt, denn in ihrem kurzen Sommerkleid und den hohen Schuhen sah sie aus wie eine lüsterne Madame Butterfly. Ich wich in die hinterste Ecke des Raumes zurück und duckte mich. Irgendetwas an ihrer Haltung machte mir Angst. Ich wollte zwar Jim sehen, aber nicht meine Familie da mit hineinziehen. So hatte sie sich zuletzt für Harold herausgeputzt. Aber ihr Gesicht war so starr, dass sie beinahe fanatisch wirkte.
Kurz bevor Jim an sein Mikrofon klopfte, als wolle er seine rituelle Macht
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