Darling Jim
immer mehr Karat, je öfter ich daran dachte.
Bumm. Bumm!
Ich erkannte das Geräusch, schon bevor ich die offene Tür im Wind schlagen sah.
»Aoife?«, rief ich, bekam aber keine Antwort. Ich sah Rosie an, die zum ersten Mal seit Jahren verunsichert wirkte. Das Haus war dunkel, der Flur mit den getrockneten Hippieblumen leer. Ein paar Blätter tanzten im Wind. Langsam gingen Rosie und ich ins Haus, wir hörten nur unsere eigenen Gedanken.
»Aoife, bist du da?«, flüsterte Rosie und erschreckte sich damit selbst fast zu Tode.
Als wir ins Wohnzimmer gelangten und das Licht anmachten, wurde uns sofort klar, was passiert war.
Aoifes gemütliche Sofas waren aufgeschlitzt worden wie Vieh, und die baumwollene Füllung war in Fetzen über dem Boden verteilt und mischte sich mit Glasscherben und den Überresten von Aoifes zerrissenen Lieblingsbüchern. Bei der Tür befanden sich große Weißweinpfützen, was bedeutete, dass all das erst vor kurzem geschehen war.
Wir waren so geschockt, dass wir zuerst gar nicht bemerkten, dass außer uns noch jemand im Raum war.
In der Ecke saß eine zusammengekauerte Gestalt, die in eine Decke gewickelt war und die Arme um sich geschlungen hatte. Sie sah uralt aus, und der Blick ihrer erloschenen Augen war nach innen gewandt, auf etwas Schreckliches, das geschehen war. Kein Laut drang aus ihrer Kehle.
»Aiofe!«, kreischte Rosie, stürzte zu ihrer Zwillingsschwester und schloss sie in die Arme. Ganz vorsichtig wickelten wir sie aus der Decke und sahen, wie schrecklich sie geschlagen worden war. Ihre Arme und ihre Brust waren von roten Striemen übersät, und ihr gepunktetes Kleid hing ihr in Fetzen vom Leib. Sie reagierte nicht auf den Klang ihres Namens. Stundenlang saßen wir dicht aneinandergedrängt beisammen wie Indianer, deren Lager von Weißen überfallen worden war, und lauschten dem Herzschlag unserer Schwester.
Als die Dämmerung hereinbrach, drehte Aoife ihren Kopf zu mir und sagte: »Er hat gesagt, das sei deine Schuld.« Ihre Stimme war völlig emotionslos.
Jim hatte ihr das angetan. Natürlich war er es gewesen. Während ich uns Tee machte und versuchte, Aoife wenigstens einen Schluck einzuflößen, erzählte sie, wie er unter dem Vorwand zu ihr gekommen war, er müsse ihr ein Geheimnis verraten. Kaum war er zur Tür herein, hatte er sie brutal zusammengeschlagen, ihr die Kleider zerrissen und sie dann stundenlang vergewaltigt.
»Er sagte, er hätte mich nur deshalb nicht getötet, weil Moira ihn zum Abendessen erwartet«, sagte Aoife mit ihrer toten Stimme. »Aber er hat versprochen wiederzukommen.«
Ich habe dir schon erzählt, dass wir drei zu Mörderinnen wurden. Und diese Entscheidung trafen wir an jenem Morgen. Als Aoife endlich in meinen Armen eingeschlafen war, sah ich, wie Roisin Aoifes größtes Messer nahm und in ihre Umhängetasche steckte.
»Zeit, den Mistkerl auszuschalten«, sagte sie in einem Tonfall, der zeigte, wie ernst es ihr war.
Moment.
Ich höre meine liebste Tante unten wieder. Weißt du noch, dass ich dir ganz am Anfang dieses Buches gesagt habe, ich wüsste nicht, wie viel Zeit uns noch bleibt? Sie ist vorbei. Wenn du also bis hierher gelesen hast, dann bete für uns und dafür, dass Rosies und mein Tagebuch irgendwie in die Welt gelangen. Meins geht ins Postamt, und Rosies wird dorthin geschickt, wo Father Malloy, der alte Teufel, ein paar Blumen darauf werfen kann. Diese alte Schaufel, die ich unter dem Waschbecken gefunden habe, hält Tante Moira vielleicht lange genug auf, um Rosie zu schützen. Aber ich weiß es nicht. Vielleicht ist sie auch schneller als wir. Ich bete nur um einen einzigen guten Schlag, mit dem ich ihr den Kopf von den Schultern trennen kann. Zu den Pyramiden werde ich wohl nicht mehr reisen, also mach ein Foto für mich, falls du es dorthin schaffst.
Sie kommt. Keine Angst, Rosie. Weine nicht. Halt durch, ich beschütze dich, solange es geht.
Und du, lieber unbekannter Leser, erinnere dich an meine Worte. Sei nicht zu streng mit uns, trotz unserer Fehler. Möge Gott dir vergelten, dass du meinen Bericht gelesen hast. Er ist wahr, im Guten wie im Schlechten.
Vergiss mich nicht.
Vergiss uns nicht.
Und solltest du jemals am Grab unserer Tante vorbeilaufen, gebe ich dir die Erlaubnis, darauf zu spucken.
TEIL ZWEI
DIE FAHRTE DES WOLFES
XIII.
Niall ließ seine Fingerspitzen lange auf dem Wort »Grab« ruhen. Er fühlte sich berauscht, wie von einem schwarzen, exotischen Wein, den er bis an sein Lebensende
Weitere Kostenlose Bücher