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Darling Jim

Darling Jim

Titel: Darling Jim Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Mork
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Kinder. Eines Tages erblickte er auf dem Marktplatz eine Darstellung des Vishnu. Sie zeigte den Gott auf einem endlosen Meer. Durch seine Haut strömten unzählige Welten zusammen und formten so das Universum. Er wollte es kaufen, konnte es sich aber nicht leisten. Also kaufte er stattdessen Papier und farbige Tinte, setzte sich vor das Gemälde und versuchte Tag und Nacht, seine Großartigkeit in allen Details zu kopieren. Die Zeit verging, Monsun und Dürreperioden wechselten sich ab. Mein Lehrer begann zu husten, doch er malte weiter. Seine Frau und seine Töchter flehten ihn an, nach Hause zu kommen, doch er hörte nicht.« Mr. Raichoudhury hustete, um anzudeuten, dass die Pointe kurz bevorstand. »Mr. Cleary, mein Lehrer starb eines Nachts auf dieser Straße an einer Lungenentzündung. Er war vollkommen erschöpft. Seine Familie blieb mittellos zurück, und nur durch die Gnade Gottes wurden die Kinder davon verschont, auf der Straße zu enden. Verstehen Sie, was ich Ihnen damit sagen will?«
    Nialls Schuldgefühle, weil er die Arbeit vernachlässigt hatte, wurden durch den Ärger verdrängt, der bei diesen Worten in ihm aufstieg. Aber er blieb ruhig. »Um ehrlich zu sein, nein, Sir. Eigentlich nicht.«
    Der Möchtegernoffizier seufzte, als habe er gerade Perlen vor die dümmste Sau im Stall geworfen.
    »Leben Sie nicht für tote Bilder, Mr. Cleary«, sagte er und schnalzte mit der Zunge wie eine enttäuschte Mutter. »Sie werden Sie aufsaugen und lebendig begraben.«
    Mr. Raichoudhury legte auf, und Niall wusste, dass der Postoffizier vollkommen recht hatte. In seinem Kopf hatte sich bereits ein Bild festgesetzt, in dem drei Frauen mit gezückten Messern einen grauen Wolf umkreisten und auf den richtigen Moment für den Angriff warteten. Irgendwann würde er diese Szene zu Papier bringen müssen, das wusste er. Wenn er zu viele Bilder in seinem Gehirn lagerte, bekam er immer Kopfschmerzen.
    Schnell stopfte Niall ein paar T-Shirts in seinen Rucksack, griff sich Oscar und bat die zwei Biologiestudentinnen von gegenüber, sich eine Weile um den Kater zu kümmern. Als Jennifer und Alex lächelnd die Tür schlossen, erhaschte Niall einen letzten Blick aus den hochmütigen Katzenaugen, der zu sagen schien: Es ist mir egal, was du vorhast, aber ich hoffe, du brichst dir den Hals dabei.
    Je weiter der Zug nach Westen vordrang, umso lebendiger wurde der Wolf.
    Niall war an der Heuston-Station in den frühen InterCity gestiegen und hatte sich an einem Fensterplatz niedergelassen. Das Abteil war beinahe leer, und außer einem schlafenden Mädchen mit Kopfhörern und einem vergessenen Koffer leistete ihm niemand Gesellschaft. Er biss von seinem Sandwich ab, starrte aus dem Fenster und fragte sich, wie lange seine mageren Reserven von weniger als hundert Euro wohl reichen würden.
    Als die Reihenhäuser der Vorstädte langsam verfallenden Steinmauern und regennassen Feldern wichen, holte Niall seinen Skizzenblock hervor und brachte beinahe mühelos ein monströses Auge zu Papier, das ihn, ohne zu blinzeln, wachsam anstarrte. Das Mädchen und die Bewegungen des Zuges verschwanden aus seinem Bewusstsein, und er wurde in das leere Blatt Papier hineingesaugt, genau wie Mr. Raichoudhury es prophezeit hatte. Bald war das Auge von dichtem, struppigem Fell umgeben und befand sich in einem schmalen, hungrigen Tiergesicht. Scharfe Zähne blitzten unter der schwarzen Schnauze hervor.
    Niall hörte nicht, wie der Zugbegleiter alle zugestiegenen Fahrgäste an Bord des weiß-grünen Zuges begrüßte und darüber informierte, nächster Halt sei Thurles und die Endstation Cork City. Denn um seinen Wolf wuchs langsam ein dichter, üppiger Wald mit Bäumen, die beinahe hörbar vor gefährlichen Kreaturen warnten, wenn man das Ohr ganz dicht an das Blatt hielt. Er war gerade dabei, eine Burg zu zeichnen, in deren Mauern ein kohlschwarzes Tor gähnte, als er sich den Wolf noch einmal genauer ansah. Die Bcine waren ziemlich gut geraten, aber irgendwas stimmte noch nicht. Es gelang ihm einfach nicht einzufangen, was an dem Körperbau eines Wolfes und seiner Natur so einzigartig war. Vielleicht ließ sich wahre Gefahr nicht einfach dadurch darstellen, dass man sklavisch die physischen Eigenschaften eines Raubtiers kopierte, dachte Niall. Vielleicht sollte er versuchen, dem Puls des Wolfes nachzuspüren, seinen Reflexen und seiner Urangst vor Gefangenschaft. Er lehnte sich zurück, seufzte und legte den Stift beiseite. Der Wolf sah immer noch aus

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