Darm mit Charme: Alles über ein unterschätztes Organ (German Edition)
startete ein anderer Wissenschaftler eine ähnlich aufregende Expedition. Allerdings begab er sich dafür nicht auf die Weltmeere, sondern in ein kleines Labor mit Neonröhren an der Decke. Dort nahm Barry Marshall ein Gefäß mit etwas Flüssigkeit in die Hand, setzte es an den Mund und schluckte den Inhalt mutig hinunter. Sein Kollege John Warren beobachtete ihn dabei gespannt. Barry Marshall bekam nach einigen Tagen eine Magenentzündung und sagte voller Stolz: »Aha! Es ist also möglich.«
Wiederum dreißig Jahre später verknüpften Wissenschaftler aus Berlin und Irland die Forschungsgebiete der beiden unterschiedlichen Männer. Der Magenkeim von Marshall sollte Auskunft über die Erstbesiedlung von Polynesien geben. Diesmal segelte niemand, und niemand trank etwas. Diesmal bat man einige Wüsten-Ureinwohner und neuguineische Highlander um etwas Mageninhalt.
Es ist eine Geschichte über die Widerlegung von Paradigmen, die Hingabe an die eigene Forschung, einen Winzling mit Propeller und eine hungrige große Katze.
Das Bakterium Helicobacter pylori lebt im Magen der halben Menschheit. Diese Erkenntnis ist relativ neu und wurde zunächst belächelt. Warum sollte ein Lebewesen an einem so lebensfeindlichen Ort leben? In einer Höhle voller Säure und zersetzender Enzymen? Helicobacter pylori ist davon nicht beeindruckt. Das Bakterium hat zwei Strategien entwickelt, um genau in dieser unwirtlichen Gegend famos zurechtzukommen.
Erstens ist eines seiner Stoffwechselprodukte so basisch, dass es die Säure in direkter Nähe neutralisieren kann. Zweitens schlüpft es einfach unter die Schleimhaut, mit der sich die Magenwand selbst vor ihrer Säure schützt. Diese Schleimhaut, die normalerweise eine gelartige Konsistenz hat, kann Helicobacter flüssiger machen und sich dann geschmeidig in ihr fortbewegen. Es hat lange Proteinfäden, die es dafür wie einen Propeller umherwirbelt.
Marshall und Warren waren der Ansicht, dass Helicobacter Magenentzündungen und -geschwüre verursachte. Bis dahin war die anerkannte Lehrmeinung, dass derartige Magenprobleme eine psychosomatische Ursache (zum Beispiel Stress) hätten oder von einer fehlerhaften Magensäuresekretion kämen. Marshall und Warren mussten also nicht nur mit dem Vorurteil aufräumen, dass im sauren Magen gar nichts leben könne, sondern auch noch belegen, dass ein winziges Bakterium Krankheiten außerhalb des normalen Infektgeschehens auslösen könnte. Bis dahin kannte man Bakterien nur als Verursacher von infizierten Wunden, Fieber oder Erkältungen.
Nachdem der völlig gesunde Marshall durch das wissentliche Schlucken von Helicobacter -Bakterien eine Magenentzündung bekommen hatte, von der er sich durch Antibiotika wieder befreien konnte, dauerte es fast zehn Jahre, bis ihre Entdeckung von der Wissenschaftswelt akzeptiert wurde. Heute gehört es zur Standarduntersuchung, einen Patienten mit Magenproblemen auf diesen Keim zu testen. Dazu trinkt man eine bestimmte Flüssigkeit, und wenn Helicobacter im Magen sitzen, zerspalten sie die Inhaltsstoffe der Flüssigkeit, und man atmet ein markiertes geruchloses Gas aus, das eine Maschine detektiert. Trinken, warten, atmen. Ein relativ einfacher Test.
Was die beiden Forscher nicht ahnen konnten: Sie hatten nicht nur die Ursache einer Krankheit entdeckt, sondern auch eines der ältesten »Haustiere der Menschheit«. Helicobacter -Bakterien leben seit mehr als 50 000 Jahren in uns Menschen, und sie haben sich parallel mit uns entwickelt. Als sich unsere Vorfahren auf die Völkerwanderung begaben, reisten ihre Helicobacter -Keime mit und bildeten ebenfalls neue Populationen. So gibt es mittlerweile drei afrikanische, zwei asiatische und einen europäischen Typ dieser Bakterien. Je weiter und je dauerhafter sich die Bevölkerungsgruppen voneinander entfernten, desto stärker unterschieden sich auch ihre Magenkeime.
Mit der Sklavenverschleppung gelangte der afrikanische Typ nach Amerika. In Nordindien beherbergen Buddhisten und Muslime zwei unterschiedliche Stämme. Familien in Industrieländern haben oft familieneigene Helicobacter , während Gesellschaften mit engerem Kontakt untereinander – in Ländern wie Afrika etwa – auch kommunale Helicobacter besitzen.
Nicht jeder, der Helicobacter im Magen hat, bekommt davon Probleme (in Deutschland wäre das sonst fast jeder Dritte). Aber die meisten Magenprobleme kommen vom Helicobacter . Das liegt daran, dass Helicobacter unterschiedlich gefährlich sein können.
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