Darwin - Das Abenteuer Des Lebens
offenbar erst nach dem Kontakt mit den Europäern entwickelt. Seit danach das Netz der mündlichen Vermittlung zusammengebrochen ist, lässt sich ihre Geschichte
nur archäologisch rekonstruieren. Wie freiwillig sie in ihr Verderben marschiert sind, vermag niemand zu sagen.
Unklar ist zum Beispiel, inwieweit die Polynesische Ratte, mit den ersten Siedlern gekommen, durch Fressen der Samen und Verbiss der Palmschösslinge zum Waldsterben beigetragen hat. Unbestritten dagegen, dass die Ressourcen zur Neige gehen. Der Skulpturenbau könnte auch zum Erliegen gekommen sein, weil das Material für Hebel und Seile zum Transport ausgegangen war. Die letzte Statue soll um 1620 errichtet worden sein. Ohne gutes Holz können auch keine seetüchtigen Kanus mehr gebaut werden. Der typisch polynesische Ausweg, das Auswandern, wird unmöglich, das einstige Schlaraffenland als glühende Grassteppe zu Falle und Gefängnis.
Nach der gängigen These verstricken sich die Stämme in Kriege um die Reste an Holz und Honig, bei denen sie schließlich die Statuen der anderen umstürzen - und zwar immer nach vorn aufs Gesicht und möglichst so, dass dabei das Genick bricht. Auf Rapa Nui lebt ein Dutzend Stämme, die alle ihre bedeutenden Ahnen in Gestalt steinerner Moia ehren. Offenbar ist ihnen am Ende nichts mehr heilig. Erst stirbt der Wald, dann die Moral.
Gegen 1680 soll es dann zum Sturz der Machthaber durch Militärs gekommen sein. Unter deren Ägide verschlechtert sich die Situation aber weiter. Die Zivilisation verbraucht sich in Bürgerkriegen. So jedenfalls wird es kolportiert. Ein kollektiver Inselkoller, weil kein Weg mehr wegführt von hier? Oder eine Kulturrevolution mit einem Bildersturm gegen in Stein gehauene Sturheit? Weil den Verantwortlichen die Weitsicht fehlt und sie sich selber wichtiger nehmen als die Nachgeborenen?
Womöglich scheitern sie an ihrer ureigenen Malthus-Krise, und ihr einziges Versagen ist fehlende oder fehlgeschlagene Bevölkerungspolitik. Sie können nicht anders, als ihren Lebensraum zu zerstören, weil sie über ihre Verhältnisse leben. Die immer größeren Statuen erzählen auch die Geschichte vom Wachstumswahn. Kultur zieht Biologie in den Abgrund, und von dort reißt die Biologie die Kultur hinterher. In der Apokalypse fällt die Schöpfung auf sich selbst zurück.
Ich habe mir den Spaß erlaubt, am Weihnachtstag über die Osterinsel zu wandern, von der Hauptstadt Hanga Roa bis zur Nordspitze. Die
Landschaft sieht hier noch in etwa so aus wie Anfang des 19. Jahrhunderts. Ein schmaler Pfad führt über abfallende Ebenen an der Küste entlang. Die menschenleere, busch- und baumlose Grassteppe ist mit handlichen Steinen übersät. Disteln blühen violett auf trocken brauner Erde. Kleine Herden verwilderter Pferde grasen zwischen schwarzen Lavafelsen. Fohlen stürmen ängstlich davon. Die Sonne brennt schonungslos, doch Wind treibt kühle Luft vom Meer hinauf.
An der Strecke zwei kleinere Ahu, verwittert, zum Teil mit Erde bedeckt und von Gras überwachsen, ansonsten unberührt seit dem Sturm auf die Statuen. Vor einem liegt bäuchlings hingestreckt ein Moai. Sein Gesicht, das früher in den Himmel sah, in Staub und Dreck. Ein ergreifendes Bild. Gefällte Macht. So endgültig. Wie groß muss die Wut gewesen sein, die Toten symbolisch noch ein zweites Mal zu töten?
Auf dem Rückweg in die Zivilisation komme ich am Ahu Akivi vorbei. Seine sieben Moai sind vor ungefähr fünfzig Jahren wieder aufgerichtet worden. Eine Gruppe junger Asiaten, zwei Männer und zwei Frauen, entsteigt einem Mietauto. Das Radio spielt amerikanische Musik. In tadellosem Englisch fragt der Wortführer: »Wo kommen Sie her?« - »Aus Deutschland, und Sie?« - »China.« - Aus welchem China?« - »Es gibt nur ein China. Wir kommen aus Shanghai.« - »Wie schön, dass Sie jetzt auch solche Reisen unternehmen können.« - »Mehr von uns werden kommen.« Sein Freund versteckt sein Gesicht hinter einem tiefernsten Lächeln und fügt wie ein Orakel hinzu: »Viel mehr.«
Am Abend, unter den fünfzehn Riesen des Ahu Tongariki an der Südostküste, wird die Macht der Megalithen förmlich spürbar. Die Anlage unweit der Tuffwerkstätten hat sich zum Wahrzeichen der gesamten Steinmannkultur gemausert, seit um 1990 herum einheimische Forscher mit japanischer Hilfe die Moai wieder aufgestellt haben. Übergroß und drohend stehen sie da, dem Meer die Rücken zugewandt, und schauen über ihre Nachfahren hinweg. Wenn die Sonne
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