Darwin - Das Abenteuer Des Lebens
zweihundertfünfzig Jahren die Bestimmung aller noch fehlenden Arten seiner »Rüssler« sechshundertfünfzig Jahre dauern Erstbeschreibung neuer Spezies immer als feierlichen Akt vorgestellt mit Taufe und ewig verbürgter Urheberschaft. Für Entomologen gehört so etwas zum alltäglichen Geschäft.
Wir fahren in ein nahe gelegenes Naturschutzgebiet. Für Laien ein
langweiliges Gehölz aus immer gleichem Eukalyptus, für Biologen ein reiches Biotop. Käferforscher erkennt man am aufgespannten weißen Schirm und dem Knüppel, mit dem sie dem Wald auf den Busch klopfen. Schon was ohne weitere Mühen mit jedem Stockschlag am Wegesrand in die Schirmfalle gerät, genügt für eine ansehnliche Anfängersammlung. Mit Blick und Geschick lassen sich in wenigen Stunden Dutzende oder gar Hunderte unterschiedlicher Spezies einsammeln. Aber warum in aller Welt gibt es von diesen Kerbtieren so irrsinnig viele Arten?
Die Antwort heißt natürlich Evolution, im Fall der Käfer so erfolgreich wie an keinem anderen Ast am Lebensbaum. Keiner hat sich so weit aufgefächert, das Grundmodell so unglaublich variiert wie die COLEOPTERA. Sie laufen, fliegen, schwimmen und graben. Sie fressen alles vom Dung bis einander. Rüsselkäfer haben sich auf Pflanzen spezialisiert. Sie bilden die größte Gruppe im gesamten Tierreich. Sie können so klein sein wie ein Stecknadelkopf und so groß wie eine Faust. Sie haben jedes bewohnbare Land erobert, von arktischen Gebieten über Wüsten und selbst entlegensten Inseln bis zu den Wipfelregionen tropischer Wälder, wo ihre Vielfalt alle Vorstellungen übersteigt.
Sie verarbeiten jeden Bestandteil der Vegetation, Wurzeln, Rinde und alle Arten von Holz, Zweige, Knospen, Blüten, Blätter, Pollen, Früchte und natürlich zerfallendes und totes Pflanzenmaterial. Keine Blütenpflanze, die nicht einen Rüsselkäfer mit sich brächte. Höhere Arten leben mit einer ganzen Reihe spezialisierter Rüssler, viele brauchen sie als Bestäuber. Im Kleinformat bilden sie gemeinsam ein komplettes evolutionäres Geschehen ab, bei dem hochgradige Arbeitsteilung zusammenwirkt - wenn man das vegetarische Verwerten pflanzlicher Erzeugnisse als Arbeit betrachten kann. Da wird gerieben, geschnitten und gesägt, zermalmt, verdaut und verwertet, was oftmals kein anderes Tier nutzen kann.
Die Rüssler haben allen Krisen des Lebens getrotzt, auch den katastrophalen Massensterben, weil sie praktisch unter allen Bedingungen existieren können. Ihre Vielfalt demonstriert nicht nur ihr evolutionäres Alter, sie hat umgekehrt ihren Erfolg erst ermöglicht. Eine tödliche Ursache lässt bei ihnen im Lebensbaum ein Zweigchen unter vielen absterben, wo es bei anderen, siehe Dinosaurier, das Ende einer
kompletten Linie bedeutet. Ihre Anpassungsfähigkeit erlaubt es ihnen, sich öffnende Nischen in kürzester Zeit zu besetzen. Ihre Vermehrungsraten können sie als Schädlinge zur großen Plage der Landwirtschaft machen. Andrerseits helfen sie als Nützlinge, schädliche Pflanzen in Schach zu halten, besonders eingeschleppte Arten, die keine natürlichen Fressfeinde besitzen. Käferpopulationen reisen in versiegelten Behältnissen um die ganze Welt als biologische Bekämpfer von Unkräutern.
Bei den Käfern könnte Darwins alte Idee von der geografischen Trennung - Voraussetzung einer Aufspaltung von Arten - mehr oder weniger zutreffen. Wie die Menschen von Kontinent zu Kontinent oder Pflanzen von Insel zu Insel wandern und sich dort den Verhältnissen anpassen, kann ein neuer Wald einer Käferpopulation neue Nischen zur Verfügung stellen und sie durch klassische Selektion als neue Art von der Ursprungsspezies abtrennen. Doch auch Darwin geht davon aus, dass die natürliche Auslese nicht die einzige Ursache der Speziation ist.
In den Dreißigerjahren des letzten Jahrhunderts hat der amerikanische Biologe Sewall Wright einen Mechanismus vorgeschlagen, der in jüngster Zeit an Bedeutung gewonnen hat: Die »genetische Drift« verteilt Erbmaterial auch ohne jede natürliche Auslese unterschiedlich auf die nächste Generation. Mit seinem Konzept bringt der Amerikaner eine weitere Form des Zufalls ins Spiel, die Darwin freilich nicht kennen konnte: Populationen einer Art sind nie homogen. Unter Umständen kann es zu regelrechten genetischen Asymmetrien zwischen einzelnen Gruppen kommen. Im nächsten Schritt folgt, etwa über unterschiedliche Partnerpräferenzen oder Fressgewohnheiten, erst die ökologische, dann die sexuelle und
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