Darwin - Das Abenteuer Des Lebens
französisch geprägt. Englisch als offizielle Landessprache beherrschen trotz der langen britischen Herrschaft - erst seit 1968 ist Mauritius unabhängige Republik - bei Weitem nicht alle. 95 Jahre Paris haben sich tiefer in den Charakter gegraben als die nachfolgenden 158 Jahre London. Bis
heute nennen die Leute ihr Eiland »Maurice« oder »Île de France«. Zeitungen drucken ohne Weiteres englische neben französischen Artikeln.
Der Reichtum an Sprachen, Speisen, Kleidungsstilen und Glaubensrichtungen hat indes noch keinen nennenswerten mauritischen Stil hervorgebracht. Das Ganze ist nicht viel mehr als die Summe seiner Teile. Die gemeinsame Identität bezieht sich auf den Staat und seine Einrichtungen. Zusammenhalt entsteht durch Toleranz. Eine multikulturelle Gesellschaft ohne eigene Kultur, ein Nebeneinander im Miteinander, wie es einmal auf der ganzen Welt Wirklichkeit werden könnte. So wie auch die hiesige Bevölkerungspyramide, die keine mehr ist, sondern ein dicker, fast senkrechter, oben spitz zulaufender Stamm. Die Geburtenrate ist so weit zurückgegangen, dass sich ein Ende des Wachstums absehen lässt. Und das in einem Entwicklungsland, das zu Afrika gehört.
Vor der Kolonialisierung lebte kein Mensch auf diesem Flecken Erde. Als Pedro Mascarenhas die Insel Anfang des 16. Jahrhunderts »entdeckt« (vorher haben arabische Kaufleute sie besucht), sieht er sie vollkommen bewaldet. »Deforestation maps« zeigen den dramatischen Rückgang ab Mitte des 18. Jahrhunderts. 1773 ist die Karte noch fast vollständig grün eingefärbt, 1835 hat sich der Anteil halbiert. Darwin hört, dass von der ganzen Insel noch nicht mehr als die Hälfte bewirtschaftet wurde. Im Jahr 1872 ist auf der Karte noch ein grüner Streifen zu sehen, 1935 ein paar Flecken, heute gibt es nur noch Punkte. Weniger als zwei Prozent des Waldes sind übrig geblieben. Und die befinden sich in bedauernswertem Zustand.
Ich muss an Tahiti denken, auch wenn ich hier auf eine gesündere, gebildetere und gastfreundlichere Bevölkerung treffe als dort. Doch hier wie dort straft kaputte Natur im Inselinnern die Parks und Gärten gepflegter Hotelanlagen an den Küsten Lügen. Ein zauberhaftes Ressort reiht sich ans andere. Fotogene Garten-Eden-Exotik im Überfluss. Musiker, Models und das übliche Klatschpersonal bringen die Häuser in die Prominentenpresse. In einer der erfolgreichsten Imagekampagnen des globalen Tourismus hat sich das Land zum Paradies mit Exklusivanspruch erklärt. Man bleibt unter sich.
Für die einheimische Bevölkerung bleibt der Zugang zum Strand auf kleine Areale beschränkt. Rucksacktouristen sind ausdrücklich
unerwünscht, Weltreisende ohne Voranmeldung offenbar die Ausnahme. Ich hätte nie gedacht, dass es schwierig sein könnte, in einem Urlaubsland wie Mauritius spontan ein Zimmer zu bekommen - wenn man nicht im klimatisierten Hotelturm an der »Waterfront« der Hauptstadt Port Louis wohnen will, die gerade zur Shoppingpassage umgestaltet worden ist. Zwei Stunden telefoniert die junge mauritische Inderin im Reisebüro beide Küsten rauf und runter, bis sich endlich ein Club auf den Sonderfall einlässt, einen zahlenden Gast für ein paar Nächte aufzunehmen. Und dann beschert mir das Pauschalparadies eines der berührendsten Erlebnisse meiner Reise.
Mit dem Rücken zu mir in der Abteilung für Singles und kinderlose Paare sitzt bei den Mahlzeiten eine ältere Dame mit stets auffällig frisch gewickelten Locken, die zwischen den Gängen in einem dicken Buch liest und zwei komplette Menüs mit Wein und Dessert serviert bekommt, als säße ihr jemand gegenüber. Doch der andere Stuhl ist und bleibt leer. Ich bin nicht der Einzige, dem sie aufgefallen ist. Offenbar kommt die Niederländerin seit Langem jeden Winter, vor ein paar Jahren noch mit ihrem Mann. Seit er gestorben ist, bucht sie weiter für zwei, sogar im Flugzeug.
Am letzten Abend - wir haben einander zuletzt von Tisch zu Tisch gegrüßt - spreche ich sie an: »Macht Sie das nicht traurig, wenn sein Teller voll bleibt?« - »Wo denken Sie hin. Ich bin ja froh, dass er bei mir ist.« - »Aber wenn er sowieso nichts isst?« - »Die Mahlzeiten stehen ihm zu.« Ich spare mir weitere Fragen, etwa nach ihrem Gepäck oder dem zweiten Bett. Nur eines will ich noch wissen: »Ich sehe Sie nie mit ihm sprechen.« - »Wir reden die ganze Zeit.«
Bald sind, fünf Sterne als Standard, eine Million Urlauber erreicht. Darunter auch solche, die sich mit dem Helikopter
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