Darwin - Das Abenteuer Des Lebens
Nutz- und Wildpflanzen könnten aus Unkräutern zudem Superunkräuter werden, die alles andere verdrängen oder überwuchern.
Wie so etwas aussehen kann, lässt sich auf Mauritius in beeindruckender Weise betrachten. Das letzte Stück Urwald liegt im kleinen Nationalpark im Süden der Insel. Als die Botanikerin Claudia Baiter es zum ersten Mal sieht, ist sie schockiert. Die Brasilianerin, gewöhnt an komplexe, ausgewogene Ökosysteme, findet nur noch untergehende Bestände vor. Inzwischen leitet sie als Kennerin der heimischen Flora die Nationale Pflanzensammlung im Forschungsinstitut der Zuckerindustrie. Sie zeigt mir das besterhaltene Stück Wald auf der ganzen Insel.
Von Urwald kann selbst hier keine Rede mehr sein. Bis zu achtzig
Prozent der Bäume gehören eingeschleppten Arten an, fast ausschließlich Guaven. »In Brasilien sind sie nur dünn gesät«, sagt Baiter. »Hier übernehmen sie den ganzen Wald.« Ein Viertel der letzten ursprünglichen Bäume ist bereits eingegangen, seit sie hier arbeitet. Gestorben vor ihren Augen, erstickt im Dickicht der Invasoren.
Mit dem Wald verschwinden Pflanzen, die es oft nirgendwo anders auf der Welt gibt. Von über hundert Spezies existieren zudem jeweils weniger als fünfzig Exemplare. BARLERIA OBSERVATRIX mit der großen rosa Blüte schlägt auf der roten Liste noch mit achtzehn Vertretern zu Buche, EUGENIA BOJERI zählt drei Individuen, ELAEO-CARPUS BOJERI zwei und die kleine ASTELIA HEMICHRYSA mit ihren hauchfeinen gelben Blütenständen ein einziges. Wenn ich je vom Totenacker der Evolution gesprochen habe, hier beschreite ich einen. Mitten auf der Insel, die sich so gut als Paradies verkauft.
Am folgenden Tag bestieg ich La Pouce, ein Berg, so benannt wegen einer daumenförmigen Ausstülpung, der sich gleich hinter der Stadt bis auf eine Höhe von 2600 Fuß erhebt. Claudia Baiter hat mir ihren Assistenten an die Seite gegeben, einen kräftig gebauten Mann, den seine Eltern Kersley getauft haben. Als ich dem Sechsunddreißigjährigen gegenüberstehe, muss ich an Bodybuilding denken. Der Sohn eines Tischlers hat nach mittlerer Schulbildung als Polizist gearbeitet. Als er seinen Job verliert, bleibt er ein paar Jahre arbeitslos. Ein Onkel vermittelt ihm schließlich eine Stelle als Laborhelfer im Zuckerforschungsinstitut. Der Beginn einer erstaunlichen Karriere. Schnell eignet Kersley sich fortgeschrittene Kenntnisse der Chemie an. Nach sechs Jahren bietet sich ihm die Chance, ins Herbarium zu wechseln. Dessen Leiter, dem Baiter nachfolgen wird, ist über achtzig. Er braucht einen Helfer und Begleiter, wenn er einmal wöchentlich ins Feld hinausfährt. Bei seinen Exkursionen verfällt der junge Mann der Flora seiner Heimat.
Innerhalb eines Jahres kennt er nicht nur deren komplette Pflanzenwelt. Er vertieft sich besonders in das Studium kleiner Blumen und Gräser und findet mit PILEA TRILOBATA ein Gewächs, das seit 156 Jahren als ausgestorben galt. Bei einem anderen, TROCHETIA PARVIFLORA, das er nach 138 Jahren wiederentdeckt, sieht er als erster Naturforscher die Blüte, die in der Erstbeschreibung fehlt. Zurzeit macht er seinen Bachelor. Als Nächstes will der Vater zweier Söhne
neben seinem Job das Masterdiplom erlangen, später vielleicht promovieren und in die Forschung gehen. Alles, weil ein Onkel ihm eine Tür geöffnet hat. Ich muss wieder an Sydney auf den Kapverden denken. Würde er eine solche Chance bekommen, er würde sie genauso nutzen.
Die Inselmitte besteht aus einem großen Plateau, das von alten zerklüfteten Basaltbergen umgeben ist, deren Schichten sich zum Meer hinabneigen. Von dort geht es steil den Hang hinauf. Die Aussicht wird mit jedem Schritt grandioser. Die Insel ist ebenfalls von einem Riff umgeben. Nur deshalb gibt es Traumstrände auf allen Seiten. Für Darwin gleich nach Cocos die willkommene Bestätigung seiner neuen Atoll-Theorie. Anders als dort hat er hier das Sammeln weitgehend eingestellt. Ein paar Insekten, ein Frosch, aber keine Fische und auch keine Pflanzen.
Kersley bückt sich und nimmt eine zarte, kräftig rosa leuchtende Blüte in die Hand. »Diese Blume gibt es weltweit nur hier, am Le Puce. CYLINDROCLINE COMMERSONII.« - »Gefährdet?« - »Alle einheimischen Pflanzen auf Mauritius sind bedroht.« Er führt mir ein »Juwel der Evolution« nach dem anderen vor. Auch ROUSSEA SIMPLEX mit ihren wachsartigen orangefarbenen Glöckchenblüten, einzige Vertreterin eines ganzen Geschlechts, ist nur auf diesen Hängen zu
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