Darwin - Das Abenteuer Des Lebens
gebracht. Dieser »Transkriptionsfaktor« steuert die Aktivierung und Deaktivierung vieler anderer Gene. Offenbar haben seine Produkte eine wichtige Funktion bei der Abstimmung zwischen »denkendem« Großhirn und dem Kleinhirn, das alle Bewegungsabläufe wie auch die beim Sprechen koordiniert.
Sprachzentren im Gehirn finden sich bereits beim Vormenschen AUSTRALOPITHECUS und beim Urmenschen HOMO ERECTUS. Möglicherweise konnten sie sich über eine Art Protosprache verständigen, vermutlich noch ziemlich tierisch klingende Laute, begleitet von Mimik im nunmehr offeneren Gesicht und Gestik der freien Hände. Doch nur der Mensch besitzt die Variante von FOXP2, die mit der Steuerung der Sprachmotorik in Verbindung gebracht wird - und sein nächster menschlicher Verwandter, HOMO NEANDERTHALENSIS. Dessen Entwicklungslinie hat sich schon bei seinem Vorläufer HOMO HEIDELBERGENSIS vor etwa sechshunderttausend Jahren von unserer getrennt.
Ob Neandertaler sprechen konnten, wissen wir nicht. Immerhin haben auch sie die Trennung zwischen Atem- und Speiseweg im Rachen aufgegeben und dürften sich deshalb wie wir schon verschluckt
haben. Bei Schimpansen passiert das nicht, weil ihr Kehlkopfdeckel über dem Gaumensegel liegt. Erst das Absinken des Kehlkopfes tiefer in den Rachenraum erlaubt die Produktion vielfältiger Laute mit Konsonanten und klaren Vokalen. Spätestens an dieser Stelle greifen kulturelle und biologische Evolution eng ineinander: Größere Ausdrucksfähigkeit verschafft Überlebensvorteile, indem außer Genen komplexere Inhalte an die nächste Generation weitergegeben werden.
Womöglich ist seine klar artikulierte, differenzierte Sprache der einzige Vorteil, den HOMO SAPIENS aus Afrika mitbringt - kulturelle Überlegenheit, erzeugt durch biologische Veränderungen im Zuge natürlicher Auslese. Neandertaler besitzen größere Gehirne als wir und sind unseren Vorfahren körperlich mindestens ebenbürtig. Über Zehntausende Jahre haben die beiden Gruppen sich Areale geteilt. Wie sie mit- oder gegeneinander gelebt, ob sie einander bekriegt, versklavt oder respektiert haben, ob sie sich verbal verständigen konnten und was sie voneinander gelernt haben könnten, darüber gehen die Meinungen auseinander. Im September 2008 berichtet der Anthropologe Christoph Zollikofer von der Universität Zürich, beide Homo-Spezies hätten damals bei ihrer Geburt etwa gleich große Schädel besessen. Neandertaler dürften somit ähnliche soziale Strukturen entwickelt haben, wie sie zur Aufzucht menschlicher Nachkommen unabdingbar sind, Gehirne heutiger Babys sind indes ein wenig kleiner als die unserer fernen Vorfahren. Zollikofer spekuliert, dass HOMO SAPIENS »ein Stück Intelligenz gegen kleinere, weniger aufwendige Gehirne eingetauscht haben könnte. Das würde bedeuten, dass wir uns effektiver fortpflanzen konnten«. Womöglich hat unsere Spezies die Neandertaler nicht überlebt, weil wir schlauer waren, sondern weil wir uns schneller vermehren konnten. Ein letzter Sieg der biologischen Evolution über die kulturelle? Sicher ist, dass die Linie unserer nächsten bekannten menschlichen Verwandten vor siebenundzwanzig- bis dreißigtausend Jahren endet - nachdem beide das Aussterben von HOMO ERECTUS erlebt haben. Seither sind wir allein.
Möglicherweise hat fernab eine weitere Menschenart noch etwas länger den Planeten mit uns geteilt: Auf der indonesischen Insel Flores haben Forscher im Jahr 2003 Überreste eines zwergenhaften Menschen gefunden, der noch vor dreizehntausend Jahren existiert haben
soll. Ob HOMO FLORESIENSIS tatsächlich eine eigene Art repräsentiert oder nur einen zwergwüchsigen HOMO SAPIENS, ist umstritten. Doch als unsere Spezies vor zehntausend Jahren mit Ackerbau und Viehzucht die Phase der sesshaften Hochkulturen einleitet, sind alle anderen Zweige am Ast der Hominiden längst abgestorben.
Wir sind den gleichen Weg gegangen wie jede andere Art. Millionen und Abermillionen vor uns sind gestorben, damit wir leben können. Niemand weiß, wie viele Zweige sich vom Hauptstamm abgetrennt haben, wie viele Anläufe die Evolution unternommen hat, um schließlich den nackten Affen als erdbeherrschendes Erfolgsmodell durchzubringen. Als ich den Schädel mit dem Katalogkürzel STS 5 seiner treu sorgenden Kuratorin zurückgebe, empfinde ich fast ein wenig Dankbarkeit. Mrs Ples hat einem frühen Teil meiner Geschichte so etwas wie ein Gesicht gegeben. Stephany Potze legt den Star ihrer Sammlung zurück hinter die
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