Darwin - Das Abenteuer Des Lebens
nicht kennen muss. Die nächste größere Stadt heißt Bahía Blanca und liegt noch gut zwei Autostunden weiter Richtung Westen. Darwin ist wochenlang in dieser Gegend mit dem Pferd unterwegs. Er entdeckt einen Menschenschlag, den er eindringlicher schildern wird als jeden anderen, dem er auf seiner Reise begegnet: den Gaucho. Seitenweise verbreitet er sich in seinem Tagebuch
über die Reitkünste, die Romantik am Lagerfeuer, das blutige Geschäft des Schlachtens und den Gaucho-Charakter an sich. Der Gaucho ist ausnahmslos verbindlich, höflich und gastfreundlich. … Er ist bescheiden gegenüber sich selbst und dem Land, gleichzeitig ein beherzter, ehrlicher Kerl .
Besser ließe sich Marcello kaum beschreiben. Hat mich noch nie gesehen, empfängt mich aber wie einen Freund. Werde ich auch bleiben bis zum Beweis des Gegenteils. Da wird aufgetischt, Bewirtung aus Instinkt - Rippchen, Würstchen, Steaks aus eigener Schlachtung. Da wird eingeschenkt, Wasser, Bier, Wein, was du willst. Und da gibt es natürlich auch einen Platz zum Schlafen, und wenn nicht im eigenen Haus, das ist viel zu klein, dann bei Verwandten. Pokale, Trophäen, Siegerkränze. Pferdebilder an den Wänden, Fotos von Marcello, hoch zu Ross, mit Sporen und Peitsche, immer mit der schwarzen Baskenmütze, beim Zureiten oder beim Turnier, in waghalsiger Pose die rasende Stute fest im Griff.
Man kann ihn sich etwa so vorstellen: kräftiger, gedrungener Körper, vom Leben auf Pferden geformt, die gebogenen Beine in Bombachas, den traditionellen Gaucho-Hosen, forschende Blicke aus klaren braunen Augen, arglos und unverstellt, dabei etwas Verwegenes im Gesicht, klug, aber ohne nennenswerte Bildung, ein stiller, schlichter Mann, der das Wort Nein nicht kennt. Er hat gerade die vierzig überschritten, genau wie der Ford Pick-up, sein Stolz. Wenn er im Schritttempo durch die Straßen des 2000-Seelen-Städtchens rollt, wird er alle paar Meter aufs Herzlichste begrüßt. »Ey, Comandante!« - »Salud, Presidente!« Falls die Zahl der Freunde ein Maß fürs Verwurzeltsein ist, dann steckt Marcello hier tief und fest in der Erde. Nur ausflugsweise hat er seinen Geburtsort bisher verlassen.
Von Darwin oder Evolution haben Marcello und Ehefrau Vanessa noch nie etwas gehört. Das Bild vom Lebensbaum will ihnen nicht einleuchten. Seine Ahnentafel, sagt der Gaucho, dessen Großvater aus Spanien kam, werde doch breiter, je weiter er zurückgehe, nicht enger, wie der Baum. Ich versichere ihm, dass dies nur eine Täuschung sei. Je mehr Generationen man zurückgehe, desto mehr gemeinsame Vorfahren habe man mit anderen Menschen, bis irgendwann alle Zweige und Äste zusammenliefen.
Rein rechnerisch haben alle lebenden Menschen einen gemeinsamen Ahnen vor »nur« sechsundsiebzig Generationen. Marcello und
Vanessa schwanken zwischen misstrauisch und hingerissen. Sie äußerten, wie es üblich war, grenzenloses Erstaunen darüber, dass die Erde rund sei, und konnten kaum glauben, dass ein Loch, wäre es tief genug, an der anderen Seite wieder herauskäme .
Immer wieder erlebt Darwin, dass schon Dinge wie sein Taschenkompass Verblüffung auslösen . Marcello will nicht glauben, dass Darwins gesamte Schriften auf einem kleinen Steckspeicher für meinen Laptop Platz finden. War ihre Überraschung groß, so war meine noch größer, eine derartige Unwissenheit bei Menschen anzutreffen. … Man fragte mich, ob sich Erde oder Sonne bewegten … Die überwiegende Zahl der Bewohner hatte die vage Vorstellung, dass England, London und Nordamerika verschiedene Namen für den gleichen Ort seien.
In Montevideo habe ich in einem Antiquariat die spanische Übersetzung von Darwins Reisejournal gefunden. Als ich Marcello am Morgen daraus über die Gauchos vorlese - ihre Höflichkeit ist außerordentlich … - , hat Darwin einen neuen Freund. Gewisse Sätze spare ich mir indes für später auf: … doch während sie noch ihre überaus anmutige Verbeugung machen, scheinen sie ebenso bereit, sollte sich ihnen die Gelegenheit bieten, einem die Kehle durchzuschneiden.
Marcello schlägt vor, ein paar Tage zu seinen Pferden hinauszufahren. Die hat er - selber ohne Landbesitz - auf dem Hof eines Freundes am Rande der Dünen untergebracht. Dort sei die Landschaft so urwüchsig, wie Darwin sie erlebt haben muss.
Wenn es stimmt, dass Freiheit die tiefsten Empfindungen weckt, dann kann ich mir kaum eine eindringlichere vorstellen, als zu Pferd mit ein paar Kameraden und einer Schar Hunde durch
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