Darwin im Faktencheck - moderne Evolutionskritik auf dem Prüfstand
passt. Die Strategie ist einfach: Man degradiert die Selektion zu einem rüden Himmelfahrtskommando und fingiert ein primitives Henkerszenario. Dessen Hauptdarsteller ist ein grobschlächtiger Sofortvollstrecker, der fast alles niedermäht, was an Neuerungen hervorgebracht wird. Jede Merkmalsveränderung, die seinem Träger keinen klar erkennbaren, sofort wirksamen Vorteil verschafft, wird stante pede exekutiert – ohne jede Bewährungschance. Demnach würden nicht nur alle als eindeutig nachteilig einzustufenden Varianten ausgemerzt, sondern auch alles, was nur mittelprächtig oder für den Moment als neutral zu bewerten ist. Die Möglichkeit, die Eignung zu beweisen, sich durchzusetzen, auch wenn der Vorteil nur geringfügig ist und keine Umwälzung in Richtung „perfekt“ zu erwarten ist, wird ausgeklammert. Das alles legt man Darwin in den Mund, obwohl dieser ausdrücklich die Überlebensfähigkeit schon kleinster Verbesserungen betont hat (s. „Dem Meister auf den Mund geschaut“, S. 262 ff). Die Konsequenzen dieses Zerrbildes sind klar. Da das Auftreten überragender Bonusmutanten bzw. grandioser Vorteils-Varietäten (um Darwins Vokabular zu entsprechen) eher selten ist, wäre nach Kritikermeinung längerfristig eine permanente Abnahme der Individuenzahlen und auch der Artenvielfalt unumgänglich. Wie uns der Blick in die Natur zeigt, ist dies aber ganz und gar nicht der Fall. Rund 1,8 Millionen Spezies wurden bislang beschrieben. Die auf Hochrechnungen beruhenden Schätzungen für den globalen Artenreichtum liegen zwischen fünf und über 100 Millionen. Genau wissen wir das noch gar nicht. Viele Lebensräume – etwa die Kronendächer der tropischen Regenwälder oder Tiefseeböden und Korallenriffe – sind nicht einmal ansatzweise biologisch erfasst. Wahrscheinlich haben wir nur von Wirbeltieren und höheren Pflanzen ein recht umfassendes Bild, bei den extrem variantenreichen Insekten hört es schon auf.
Diese wahrlich beeindruckende Biodiversität wird nun von Darwins Gegnern als angebliches Totschlagargument gegen das Evolutionsmodell missbraucht – gegen ein Evolutionsmodell allerdings, dessen Zentralinstanz jenes scharfrichtende Exekutionskomitee ist, das unsensibel urteilend Leben zerstört. Ein solches Bild von der natürlichen Zuchtwahl hat Darwin nie gezeichnet und findet auch im aktuellen, auf modernen Forschungsstand aufgerüsteten Abstammungsmodell keinen Platz.
Die Selektion ist kein rigoroser Individuenkiller. Die Anti-Darwinisten personifizieren hier quasi ein biologisches Wirkungsgefüge. Aus einer langfristigen Eignungsprüfung, einer Bewährungschance, machen sie ein oberflächlich aburteilendes Schnellgericht. Jedes Lebewesen, dem eine mutative Veränderung widerfährt, die ihm keinen sofort wirksamen 1A-Survivalbonus beschert, wird ohne Umweg zum Schafott geführt. Selektion als Massenexekuteur? Weder Darwin noch irgendeiner seiner heutigen Befürworter hat jemals eine solche Definition für den Begriff der natürlichen Auslese gegeben. Im Evolutionsmodell ist Selektion keine Tötungsinstanz, sondern ein Bewertungsmaßstab. Eine schlechte Benotung steht für geringe Wettbewerbsfähigkeit bei Nahrungsbeschaffung, Partnersuche, Fortpflanzung etc. Aber in aller Regel bedeutet eine ungünstige Mutation – sofern sie keine pathologische Einschränkung essenzieller Lebensfunktionen (Physiologie) begründet – nicht das sofortige Ableben des betroffenen Individuums. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass dessen nachteiliges Merkmalskorsett die nachfolgenden Generationen überdauert, ist geringer als bei leistungsstärkeren Konkurrenten – zumindest solange die Umweltanforderungen konstant bleiben. Im extremsten Fall ist auch eine komplette Ausmerzung möglich. Eine solche schließt der Darwin’sche Überlebenskampf durchaus mit ein. Die zahlreichen fossilen Belege ausgestorbener Lebensformen sprechen eine eindeutige Sprache. Das hat aber nichts mit kriegerischer Massenvernichtung zu tun.
Was du meinst, entscheiden wir!
Immer wieder drängt sich die Frage auf, wie die Anti-Darwin-Fraktion auf derart abstruse Ideen kommt, Darwin posthum Interpretationen seiner eigenen Arbeit in den Mund zu legen, die dieser selbst nachweislich nie gegeben hat. Normalerweise sind solche Vorgehensweisen – allerdings ohne diffamierende Komponente – eher aus der klassischen Literaturwissenschaft bekannt. Der Nicht-Eingeweihte gewinnt dabei bisweilen den Eindruck von „Diskussionen um des Kaisers Bart“,
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