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Darwinia

Darwinia

Titel: Darwinia Kostenlos Bücher Online Lesen
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gefunden hatte: In Memory of Dr. Thomas Markland Gillvany. Photographien der Expeditionsmitglieder: Preston Finch, lächerlich steif mit seinem Tropenhelm; der magere Every Keck; der glücklose Gillvany; der arme, zu Tode gepeinigte John Watts Sullivan… Diggs, der Koch, war nicht vertreten, auch Tom Compton nicht, aber da war ihr Vater, Guilford Law, auf Expedition zum Gallatin-River, mit Tagesbart und Flanellhemd, ein junger Mann mit schmutzigen Fingernägeln, krauser Stirn und Boxkamera.
    Ihre Fingerkuppe berührte die Vitrine. Seit zwanzig Jahren hatte sie ihren Vater nicht mehr gesehen, nicht mehr seit diesem grässlichen Morgen in Fayetteville, den sie in Erinnerung hatte, als sei die Sonne über einem Meer aus Blut aufgegangen.
    Er war damals nicht gestorben. So tödlich die Wunden gewesen waren, so rasch waren sie verheilt. Er hatte im Bezirkskrankenhaus von Oro Delta gelegen, unter Bewachung: Die Bezirkspolizei wollte Aufschluss über den gewaltsamen Tod von Abby, Nicholas, drei Unbekannten und Sheriff Carlyle. Doch er war wieder auf den Beinen gewesen, viel eher, als die Ärzte ahnen konnten; während der Nachtschicht hatte er eine Wache überwältigt und das Krankenhaus verlassen. Man erließ Haftbefehl gegen ihn, aber das war kaum mehr als Kosmetik gewesen. Der Kontinent verschluckte seine Ausreißer mit Haut und Haaren.
    Er war immer noch da draußen.
    Sie wusste, dass er lebte. Die Alten Männer nahmen von Zeit zu Zeit Verbindung mit ihr auf. Dann berichtete sie ihnen, was sie als Schreibkraft im Büro von Matthew Crane in Erfahrung gebracht hatte – einem von Dämonen besessenen Beamten des Verteidigungsministeriums –, und erkundigte sich gleichzeitig nach ihrem Vater.
    Der immer noch da draußen war, um die Apokalypse abzuwenden.
    Der Zeitpunkt, versicherten sie, rücke in greifbare Nähe.
    Lily blieb vor einem erleuchteten Diorama stehen.
    Ein darwinischer Zweifüßer – der lateinische Name war ein Zungenbrecher – zwei Beine, vier Arme, ein Monster, das um die Eiszeit herum auf dem europäischen Flachland gejagt hatte, ein wahres Ungetüm. Das Skelett stand acht Fuß hoch, hatte eine massive, ventrale Wirbelsäule, an der kräftige Muskelbänder anpackten, einen gewölbten Schädel und Zähne wie Faustkeile. Daneben stand eine Rekonstruktion, komplett mit Chitinhaut, Glasaugen und gezähnten Scheren, die einer Wollschlange die Kehle aufrissen.
    Ein Ausstellungsstück wie die Photographie von Guilford Law; doch Lily wusste, dass beide noch existierten: ihr Vater und diese Bestien.
    »Wir schließen gleich, Ma’am.«
    Es war der Nachtwächter, ein kleiner Mann mit Hängebauch und näselnder Stimme und Augen, die weit älter schienen als das übrige Gesicht. Sie wusste nicht, wie er hieß, obwohl sie sich schon oft begegnet waren, immer so wie heute. Er war ihr Verbindungsmann.
    Wie immer drückte sie ihm ein Buch in die Hand. Sie hatte es tags zuvor in einer Filiale in Arlington gekauft. Ein populärwissenschaftliches Buch, The Martian Canals Reconsidered, [45] mit den neuesten Aufnahmen aus dem Mount Palomar, die Lily aber nur flüchtig interessiert hatten. Zwischen den Seiten lagen Fotokopien von Dokumenten aus Cranes Büro.
    »Das hat wohl jemand liegenlassen«, sagte sie.
    Der Wachmann nahm das Buch in seine fleischigen Hände. »Da freut sich das Fundbüro.«
    Sie hatten diese Floskeln so oft ausgetauscht, dass sie allmählich das Gefühl hatte, ›Fundbüro‹ sei ein anderer Name für die Alten Männer, die Veteranen, die Unsterblichen.
    »Danke.« Sie war so mutig zu lächeln, bevor sie sich umdrehte und zum Ausgang ging.
     

     
    Altwerden, dachte Matthew Crane, ist wie Rechtsprechen. Es muss nicht bloß passieren, es muss öffentlich sein.
    Er hatte sich eine Reihe Techniken ausgedacht, um sicherzustellen, dass er nicht verdächtig jung erschien.
    Einmal im Jahr – jeden Herbst – zog er sich in die Intimsphäre seines marmornen Bades zurück, duschte, trocknete sich ab, setzte sich vor den Spiegel und rupfte sich mit der Pinzette Haare vom Kopf, um einen zurückweichenden Haaransatz zu simulieren. Die Götter waren nicht so mitfühlend, ihm eine Lokalanästhesie zu gönnen, doch inzwischen hatte er sich an den Schmerz gewöhnt.
    Als er fertig war, schnitt er sich mit der blanken Rasierklinge ein paar Linien ins Gesicht.
    Die Technik war heikel. Es kam darauf an, oft und tief (aber nicht zu tief) zu schneiden. Dieser Bereich am Augenwinkel zum Beispiel. Er musste aufpassen, das

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