Darwinia
sterben. Nicht ewig leben. Möchte ich alt werden und sterben wie ein normaler Mensch. Ist das zu viel verlangt?«
Der Wachsoldat schwieg eine Zeit lang.
Turingmaschinen arbeiteten unermüdlich, die zerbröselnden Fundamente des Archivs abzufangen. An unzähligen Fronten rückte Psileben vor, zog sich zurück, um wieder vorzurücken.
Eine zweite Welle an virtuellen Codes wurde in das Archiv geworfen mit dem Ziel, die schwer gepanzerten Taktsequenzen der Psionen zu knacken.
Die Noosphären wollten das Timing der Psionen stören, sie vom Higgs-Taktgeber der Ontosphäre trennen. Der Plan war verwegen, aber nicht ungefährlich; der Feind konnte den Spieß umdrehen.
Das Bewusstsein harrte aus: äußerst geduldig, wenn auch zutiefst besorgt.
Viertes Buch
HERBST, 1965
»Wer die Vielfalt sieht und nicht das Eine, der wandert von Tod zu Tod.«
- KATHA UPANISHAD [44]
Kapitel Zweiunddreißig
Er war einer von Hunderten, die an der transalpinen Gleisstrecke arbeiteten.
Sie waren in der Railworkers Union organisiert. Mit TNT sprengten sie sich durchs Gebirge, sie schlugen Brücken über Schluchten, verlegten Gleise. Oder sie waren Ingenieure, Schaffner, Schmierer, Schlosser und Stauer.
Wenn die Arbeit knapp wurde, verschwanden sie für Monate in der Wildnis. Oder in den qualmenden Slums von Tilson und New Pittsburgh am Rhein.
Es waren wortkarge Einzelgänger. Sie hatten keine Freunde, keine Familie. Sie sahen nicht besonders alt aus (ihr Alter war schwer zu schätzen), doch ihr Alter umgab sie wie eine Aura. Ihr Gang sprach von Ökonomie, von einer schrecklichen und sturen Ausdauer.
Karen Wilder kannte diesen Schlag Männer. Sie hatte viele von ihnen erlebt, aber noch nie so viele wie in letzter Zeit.
Karen bediente am Ausschank des Schaffhausen Grill in Randall, New Inland Territories. Sie war jetzt fünf Jahre hier, hereingeschneit aus einer Zechenstadt in den Pyrenäen, ohne einen Pfennig Geld in der Tasche und auf Arbeitssuche. Sie machte ihren Job gut und hatte eine sachlich-nüchterne Übereinkunft mit dem Besitzer. Der Koch ließ die Finger von ihr und sie brauchte nicht mit den Kunden nach oben zu gehen. (Was allerdings das kleinere Problem war, seit sie Vierzig geworden war. Die Offerten kamen zwar immer noch, aber nicht mehr so häufig.)
Randall war ein Kaff an der Rhein-Ruhr-Linie. Jeden Tag kamen die großen Güterwaggons hier durch, schwer mit Kohle beladen, die für Tilson, Carver und New Dresden bestimmt war. Unterhalb des Rheinfalls kreuzten sich Binnenautobahn und Trasse. In den letzten paar Jahren war der Schienenkopf enorm vorangekommen. Respektable Familien waren zugezogen. Doch Randall blieb eine Grenzstadt; das Heimstätten- und Auswanderungsgesetz ließ den Strom von Gelegenheitsarbeitern aus den Städten nicht abreißen. Karen empfand die neuen Arbeiter als eine Plage; streitlustig und schnell mit der Faust dabei. Sie zog die Gesellschaft der Langzeitarbeiter vor, auch (oder besonders) der wortkargen.
Als Guilford Law zum ersten Mal hereingekommen war, hatte sie ihn gleich gekannt – nicht den Namen, aber den Typ.
Er war ein Langzeitarbeiter reinsten Wassers. Hager, beinah knochig. Große Hände. Uralte Augen. Karin hätte zu gern gewusst, was diese Augen alles gesehen hatten.
Aber er war nicht gesprächig. Seit anderthalb Jahren war er Stammkunde hier. Er kam abends, aß nicht viel, trank ein bisschen. Karen dachte, dass er sie vielleicht mochte – er richtete immer ein paar Worte an sie, entweder über das Wetter oder die Nachrichten. Wenn er etwas sagte, lehnte er sich zu ihr herüber wie eine Pflanze, die die Sonne sucht.
Doch er ging immer nur mit den Huren nach oben.
Heute Abend kam es ein bisschen anders.
Mitte September schien der Schaffhausen Grill ausschließlich Ortsansässige anzulocken. Die Sommergäste, Holzarbeiter und Wollschlangenhirten und die Billigtouristen, die mit dem Zug kamen, sie zog es in wärmere Gegenden. Um den Laden zu füllen, hatte der Besitzer eine Jazzband aus Tilson angeheuert, doch die Musiker waren teuer und hinter jedem Weiberrock her gewesen, und der Trompeter hatte die schlechte Angewohnheit gehabt, auf dem Marktplatz in aller Herrgotts Frühe betrunkene Tonleitern zu spielen. Das hatte so nicht weitergehen können, und im September darauf war der Schaffhausen Grill wieder so ruhig, wie er es die meiste Zeit gewesen war.
Dann waren die Langzeitarbeiter aufgetaucht. (Die Alten Männer, wie manche
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