Darwinia
Auge nicht zu verletzen, zog die Klinge kräftig nach außen über die Wange. Blut quoll hervor, kurz nur. Abtupfen und wiederholen. Nach dem dritten oder vierten Schnitt ließ sich das sture, unsterbliche Fleisch endlich zu einer dauerhaften Narbe herab.
Eine Kunst für sich.
Auf Uneingeweihte mussten diese Prozeduren natürlich abstoßend wirken. Schneiden, verschmieren, wieder schneiden, wie ein Arzt, der eine Leiche für anatomische Zwecke seziert, ohne ihre Nervenbahnen zu beschädigen. Einmal war er drei Tage mit einer hängenden Lippe herumgelaufen, was eine seiner Assistentinnen zu der besorgten Frage veranlasst hatte, ob er womöglich einen Schlag erlitten habe. Es war eine heikle Arbeit, die Geduld und eine ruhige Hand erforderte.
Er hob die Utensilien in einem Lederetui im Medizinschränkchen auf, Make-Up-Besteck eines Unsterblichen: frische Rasierklingen, Schleifstein, Wattebäusche, Pinzette.
Um die Grobheit einer gealterten Haut vorzutäuschen, benutzte er Schmirgelpapier.
Er bevorzugte Stärke 10 und wandte sie an, bis die Poren blutig waren.
Es lag auf der Hand, dass sich die Illusion nicht unbegrenzt aufrechterhalten ließ. Aber das musste auch nicht sein. Schon bald würde der Krieg eine neue, andere Wendung nehmen; dann war Tarnung überflüssig; in sechs Monaten, einem Jahr… tja, da würde alles anders sein. Soviel hatte man ihm versprochen.
Er beendete die Arbeit mit der Rasierklinge, säuberte sie, spülte die blutigen Rinnsale in den Abfluss, warf die blutigen Wattebäusche ins Klosett und zog ab. Er war mit seiner Arbeit zufrieden und wollte eben das Bad verlassen, als er etwas Seltsames bemerkte. Der Nagel des linken Zeigefingers fehlte. Die Stelle, wo er hätte sein sollen, war leer – eine feuchte, rosarote Delle.
Das war merkwürdig. Er erinnerte sich nicht, den Nagel verloren zu haben. Es hatte offenbar nicht wehgetan.
Er hielt beide Hände vor sich und inspizierte sie mit großem Unbehagen.
Rechts hatten sich zwei weitere Nägel gelockert, am Daumen und am kleinen Finger. Versuchsweise hob er den Daumennagel an. Er löste sich mit einem glibberigen, ekligen Schmatzer und fiel ins Waschbecken, wo er wie ein Käferflügel am feuchten Porzellan hing.
Tja, dachte er. Das ist neu.
Irgendeine Hautkrankheit? Das ging vorüber. Die Nägel würden nachwachsen. So funktionierte das immer. Er war unsterblich.
Doch die Götter mieden dieses Thema.
Kapitel Vierunddreißig
Der letzte Klient von Elias Vale war eine Frau aus der Karibik, die an Krebs starb.
Sie hieß Felicity und war auf Stockbeinen durch den Herbstregen zu Vales schäbiger Praxis in der Coaltown Street in New Dresden gekommen. Sie trug ein loses, geblümtes Kleid, das um ihren ausgemergelten Körper schlotterte. Die Tumoren – so seine Gottheit – hatten bereits Lunge und Darm besiedelt.
Er schloss die Fensterläden und sperrte den Blick auf nasse Straßen, dunkle Gesichter, Fabrikschlote und sauren Regen aus. Felicity, siebzig Jahre alt, seufzte erleichtert auf. Als sie zum ersten Mal in sein zerstörtes Gesicht geblickt hatte, war sie erschrocken gewesen. Und das war gut so, dachte Vale. Angst und Ehrfurcht wohnten dicht beisammen.
Felicity fragte mit einer matten Stimme, die sich aber den Klang von Spanish Town [46] bewahrt hatte: »Werde ich sterben?«
Sie brauchte kein Medium für diese Diagnose. Jeder aufrichtige Laie hätte auf Anhieb gewusst, dass sie starb. Ein Wunder, dass sie es geschafft hatte, die Treppe zu Vales Praxis zu erklimmen. Natürlich war sie nicht hergekommen, um die Wahrheit zu hören.
Er setzte sich hinter den kleinen Holztisch, der mit dem kurzen Bein auf einem Buch mit astrologischen Tabellen stand. Die gelben Augen von Felicity glitzerten im wässrigen Licht. Vale reichte ihr die Hand. Seine Hand war weich gepolstert. Die ihre mager, eine blasse, pergamentene Handfläche. »Ihre Hand ist warm«, sagte er.
»Ihre ist kalt.«
»Warme Hände sind ein gutes Zeichen. Das ist das Leben, Felicity. Fühlen Sie nur. Das sind die Tage, die Sie durchlebt haben, das alles fließt durch Ihren Körper wie Elektrizität. Spanish Town, Kingston, das Schiff nach Darwinia… Ihr Mann, Ihre Kinder, sie alle sind dort, all Ihre Tage unter dieser Haut.«
»Wie lange habe ich noch?«, sagte sie unbeirrt.
Vales Gottheit hatte kein Interesse an dieser Frau. Sie war nur so viel wert, wie er für die Konsultation bekam. Sie existierte, um seine Barschaft aufzubessern, bevor er auf den Zug
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