Darwinia
ihr habt euch doch für so verdammt aufgeschlossen gehalten, nicht wie der alte Finch, der sich die Weltgeschichte aus frommen Wünschen zusammenflickt. Aber du bist Guilford Law, der ehrbare Bürger, egal was alles dagegenspricht, und wehe, wer nicht mitspielt.«
»Sieh mal, Tom…«
»Mach selbst die Augen auf. Dein Laden ist abgebrannt. Du hast Feinde. Deine Frau ist in Gefahr, dein Kind. Wegen dir. Dir, Guilford. Besser, du siehst einer verdammt heiklen Wahrheit ins Auge als dem Tod deiner Familie.«
»Vielleicht wärst du besser nicht hergekommen.«
»Entschuldige meinen Arsch auf deinem Stuhl.« Er schüttelte den Kopf. »Ach übrigens, Lily ist in der Stadt. Sie wohnt in einem Hotel in Oro Delta. Sie möchte dich treffen.«
Guilfords Herz tat einen Sprung. »Lily?«
»Deine Tochter. Falls du dich noch erinnerst.«
Abby wusste nicht, was der stämmige Hinterwäldler mit ihrem Mann zu bereden hatte, aber Guilford stand die Furcht ins Gesicht geschrieben, als er wieder ins Haus kam.
»Abby«, sagte er, »ich finde, du solltest ein paar Sachen zusammenpacken und mit Nick für eine Woche zu deinem Vetter nach Palaepolis ziehen.«
Sie kam in seine Arme, fasste sich, sah zu ihm auf. »Warum?«
»Für alle Fälle. Bis wir wissen, was wirklich los ist.«
Wenn man so lange mit einem Mann zusammenlebt, dachte Abby, dann liest man zwischen den Worten. Es gab keine Diskussion. Guilford hatte Angst, große Angst.
Die Angst war ansteckend, doch sie verschloss sie in einem Knoten direkt unter ihrem Brustbein: Nicholas durfte nichts davon mitbekommen.
Sie kam sich vor wie eine Schauspielerin, die versuchte, sich an einen alten Text zu erinnern. Jahrelang hatte sie es kommen sehen – na ja, nicht das jetzt, aber irgendeinen Bruch, irgendeine Krise in ihrem Leben. Denn Guilford war kein gewöhnlicher Mann.
Nicht nur, dass er so jugendlich blieb, was ihr seit zwei, drei Jahren geradezu ins Auge sprang. Nicht nur wegen seiner Vergangenheit, über die er selten redete und eifersüchtig wachte. Es war mehr als das. Guilford war wie abgetrennt vom gewöhnlichen Lauf der Dinge, und er wusste das, und es war ihm peinlich.
Sie hatte Geschichten gehört. Geschichten, die von Mund zu Mund gingen. Sie erzählten von den Alten Männern, womit die altehrwürdigen Grenzer gemeint waren, die hin und wieder hier durchzogen. (Dieser Tom Compton war ein Paradebeispiel.) Geschichten, die in den langen Nächten zwischen Weihnachten und Ostern erzählt wurden: Die Alten Männer wussten mehr als sie sagten. Die Alten Männer bewahrten Geheimnisse.
Die Alten Männer waren keine richtigen Menschen.
Auf derlei hatte Abby nie etwas gegeben. Sie hatte zugehört, und sie hatte still in sich hineingelächelt.
Aber vor zwei Wintern, da war Guilford beim Holzhacken gewesen, draußen hinter dem Haus, als ihm der Stiel des alten Beils aus der Hand gerutscht und die Schneide tief ins Fleisch unter dem linken Knie gefahren war.
Die bleiche Sonne war noch am Himmel gewesen. Abby hatte am frostgerahmten Fenster gestanden und alles ganz deutlich gesehen. Sie hatte gesehen, wie die Schneide ins Bein fuhr – er hatte zerren müssen, als hätte das Beil in einem nassen Stück Holz festgesessen – und Abby hatte das Blut auf der Schneide gesehen und das Blut auf dem hart gefrorenen Boden. Ihr Herz schien stillzustehen. Guilford, plötzlich weiß im Gesicht, ließ die Axt los und fiel…
Abby rannte zur Hintertür, doch bis sie bei ihm war, da hatte er tatsächlich wieder auf den Füßen gestanden. Sie hatte es nicht fassen können. Er hatte ganz merkwürdig dreingesehen, wie ein geprügelter Hund. Oder jemand, der sich schämt.
»Ist noch mal gutgegangen«, sagte er. Abby war bestürzt. Aber dann zeigte er ihr die Wunde: Sie war bereits geschlossen – wo die Schneide eingedrungen war, war nur mehr eine hauchzarte rote Linie zu sehen.
So etwas gibt es nicht, hatte Abby gedacht.
Es sei nicht der Rede wert. Es sei nur ein Kratzer, beteuerte er; und wenn sie mehr gesehen habe, dann weil ihr die tief stehende Sonne einen Streich gespielt habe.
Und am nächsten Morgen, als er sich anzog, da hatte nicht einmal mehr eine Narbe an den Vorfall erinnert.
Und Abby hatte den Vorfall auf sich beruhen lassen, weil Guilford es so wollte und weil sie einfach nicht verstand, was sie da gesehen hatte – vielleicht hatte er ja Recht, vielleicht hatte sie sich getäuscht, obgleich das Blut am Boden und das an der Axt etwas ganz anderes sagten.
Wenn
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