Das 2. Gesicht
jungfräulich. Es war in den letzten drei Tagen ein einziger Anruf eingegangen. Ich hatte ihn nicht entgegengenommen.
Also drückte ich auf Rückruf. Es meldete sich eine mir wohlbekannte Stimme.
„Hi“, sagte ich, „hier ist Julia Osterman. Sie haben bei uns angerufen?“
„Ja“, sagte der nette Mann von der Security, mit dem Sandra im durchscheinenden Negligé geflirtet hatte, „ich habe Ihre Freundin angerufen. Sie wollte doch unbedingt die Adresse haben, zu der die Störungen im Haus gemeldet werden. Und die habe ich ihr gegeben. Ich dachte, das hätte sie in Ihrem Auftrag getan?“
„Ja, ja“, sagte ich. „Wann haben Sie denn mit ihr telefoniert?“
„Vorgestern, so kurz vor drei“, sagte er. Ein Schweißtropfen löste sich von meiner Stirn und fiel auf die Granitoberfläche des Küchenschrankes. Sandra hatte die Adresse vom Strandhaus von der Security. Damit war ihr Treffen mit Ferdi Kuhn hinfällig gewesen.
„Könnten Sie mir bitte die Adresse geben?“, bat ich.
„Da müsste ich erst mal ins Büro fahren, die habe ich hier nicht.“
Am liebsten hätte ich geschrien „
Dann beeil dich, du Arsch!“
, aber ich ließ es. „Bitte, könnten Sie das so schnell wie möglich machen?“, flötete ich mit meiner schönsten Engelsstimme.
„Für so gute Kundinnen wie Sie tue ich alles“, beeilte er sich zu sagen. „Ich rufe Sie gleich zurück.“
Gleich hieß bei ihm fast zwei Stunden. Ich konnte einfach nicht still sitzen bleiben und war mit dem Telefon durch das Haus getigert. Und dann hatte ich sie: die Adresse vom Strandhaus. Es gab keine Sekunde zu verlieren. Ich rannte zum Jeep und raste nach Captiva. Wobei man nach Captiva nicht wirklich rasen kann. Bis zur Brücke nach Sanibel ging es noch halbwegs zügig voran, aber in Sanibel war Stop-and-go angesagt. Touristen verstopften die Straßen auf der Suche nach Parkplätzen. Lieferwagen und die Trucks der Gärtner mit ihren langen Anhängern gaben ein Hupkonzert von sich, wenn mal wieder ein Tourist auf die Bremse trat, weil er meinte, das Seeadlernest unbedingt von der Hauptstraße aus fotografieren zu müssen. Ab der Ecke Palm Ridge Road hatte ich einen Coca-Cola-Sattelschlepper vor mir, dessen Kurvenmanöver auf der engen Sanibel Captiva Road ebenfalls nicht einer gewissen Spannung entbehrten. Es schien Stunden zu dauern, bis ich die Brücke nach Captiva überquerte. Endlich führte mich mein TomTom zu dem hinter dichten Palmen-und Mangrovensträuchern versteckt liegenden Strandhaus.
Captiva
Ich wusste bereits von außen, dass ich das richtige Haus gefunden hatte. Ja, das war das Strandhaus, das zu meinem Ehemann passte. Es war ein auf Stelzen stehendes, weißes Holzhaus im Florida-Key-Stil, genau die Art von Haus, die George lieben würde. Auch ich würde gern in so einem Haus wohnen. Es war gegerbt vom Seewind und der salzhaltigen Luft und strahlte geradezu eine hemingwaysche Lässigkeit aus. Die Farbe blätterte ab, was ihm aber durchaus Charme verlieh. Hinter dem Haus lag direkt der Strand. Eine kleine, gebogene Auffahrt führte zum Eingang, der über eine Holztreppe erreichbar war. Auf der Einfahrt lagen unzählige welke Mangrovenblätter. Hierher jedenfalls kam nicht regelmäßig der Gärtner. Unter dem Haus stand ein Bootsmotor und ein Generator, auch parken konnte man zwischen den Stelzen. Allerdings stand dort im Moment kein Auto und auch die Einfahrt war frei.
Ich fuhr langsam an dem Haus vorbei und suchte eine Stelle, an der ich wenden konnte. Ich fand einen freien Strandzugang und einen kleinen Parkplatz, auf dem ich mein Auto abstellte. Dann zog ich meine Schuhe aus und versuchte, mich von der Seeseite her dem Haus zu nähern. Vom Strand hinter dem Haus führte ein langer Bootssteg ins Wasser. Er war im Moment verwaist. George war also ganz offensichtlich nicht im Haus.
Ich blieb am Strand stehen und lauschte. Abgesehen von dem lauten Kreischen der Möwen und dem Platschen der Wellen war kein Geräusch zu hören. Es war, als ob ich hier ganz alleine sei. Die Luft war geschwängert mit dem Geruch des Meeres: Seetang und Salz. Ein riesiger Pelikan flog im Tiefflug an mir vorbei. Ich nahm all meinen Mut zusammen und stakste durch den schneeweißen Sand, der aus Millionen von zerborstenen Muscheln zu bestehen schien, zu der Hinterseite des Hauses. Der Sand verbrannte mir fast die Fußsohlen, so sehr hatte er sich in der sengenden Sonne erhitzt.
Eine Veranda lief vom Eingang um das ganze Haus herum, ich stellte mir vor, wie
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