Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das 2. Gesicht

Das 2. Gesicht

Titel: Das 2. Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nika Lubitsch
Vom Netzwerk:
schön es wäre, hier abends in einem Schaukelstuhl zu sitzen und der Sonne beim Schlafengehen zuzuschauen.
    „Hallo, ist da jemand?“, rief ich und in dem Moment dachte ich an Hänsel und Gretel im Märchen der Brüder Grimm, die ganz laut im dunklen Wald riefen, um ihre Angst zu vertreiben.
    Mein Herz klopfte bis zum Hals, als ich die weiße Holztreppe erklomm. Was sollte ich tun? Einbrechen?
    Ich rüttelte an der Tür. Sie war verschlossen. Ich ging um die Ecke herum und versuchte es bei einem der Fenster, die auf die Veranda führten. Es war ebenfalls verschlossen. Nacheinander rüttelte ich an allen Fenstern, kein einziges bot mir Einlass. George würde dieses Haus mit Sicherheit bewachen lassen. Allerdings hatte ich keine der üblichen Kameras und Warnblinklichter gesehen. Ich versuchte, nach innen zu schauen. Was für ein gemütliches Haus! Ich wollte da rein, ich musste da einfach rein. Aber wie?
    Ich hatte immer gedacht, dass es ganz einfach sei, in diese amerikanischen Häuser einzubrechen, hier kannte man keine Schließsysteme à la good old Germany mit Sicherheitsschlüsseln und doppelt-und dreifach Verriegelung. Wer hier einbrechen wollte, brauchte genau drei Sekunden. Zwei, um sich totzulachen, und eine, um reinzukommen. Allerdings hinterließ man dabei eine Spur so breit wie der Caloosahatchee.
    Was also sollte ich tun? Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und strich mit der Hand über den Türrahmen. Da lag doch tatsächlich ein Schlüssel. Und so was schrieb Thriller! Ich benutzte den Schlüssel und öffnete die Tür.
    Durch einen Vorraum kam man direkt in ein großes Wohnzimmer mit einem spitzwinkligen, sehr hohen Dach. Die Dachbalken waren weiß gestrichen, auch hier blätterte die Farbe bereits ein wenig ab. Darunter standen gemütliche, geblümte Sofas, schon ein bisschen durchgesessen, in der Mitte ein Couchtisch aus weiß gestrichenem Bambus, Bücherregale waren in die Wand eingelassen. Die Bücherregale waren gefüllt mit Büchern aus der ganzen Welt, ich schaute staunend auf die Titel, die dort in allen Sprachen und Farben prangten. Und auf jedem Buchrücken stand der Name des Autors: George Osterman. Jetzt wusste ich wenigstens, wie das auf Kyrillisch und Japanisch aussah. Wenn ich bis jetzt noch einen leisen Zweifel gehabt hatte: Hier war ich richtig.
    Schnell lief ich durch alle Räume. Keine Sandra. Aber vielleicht würde ich hier irgendeinen Hinweis auf sie finden.
    Ein weißer Tresen trennte die einfache, kleine Küche vom Wohnzimmer ab. Das einzig Neue in der Küche schien der überdimensionale Eisschrank zu sein. An der Wand gegenüber hing ein riesiger TV-Bildschirm. Darunter stand ein DVD-Player. Ich ging dorthin, fand die Fernbedienung und drückte auf Play.
    Der Schrei, der erklang, war so markerschütternd, dass mir vor Schreck die Fernbedienung aus der Hand fiel. Ich schaute hoch und glaubte einen Horrorfilm zu sehen. Nachdem ich mich von dem ersten Schreck erholte hatte, schaute ich genauer hin. Jetzt sah ich, woher der Schrei kam, die Kamera fing die Augen einer Frau ein, die schreckgeweitet auf etwas starrten. „Bitte, bitte, nicht, bitte“, stammelte die Frau. Als ich erkannte, worum die Frau gefleht hatte, versagten mir fast die Beine. Eine Motorsäge kam ins Bild, wurde angeworfen und die wahnsinnigen Schreie der Frau gingen unter in dem Geräusch des Motors. Das gemütliche Zimmer drehte sich einmal um mich, oder war es mein Magen, der sich einmal umdrehte? Das Blut wich aus meinem Kopf. Sekunden später fand ich mich neben der Fernbedienung auf der Erde liegend wieder. Die Schreie der Frau drangen wie durch Wattebäusche in mein Ohr, es dauerte eine Weile, bis ich wieder klar war. Ich blickte hoch und schaute auf eine Frau, die auf einer Liege festgeschnallt war, die nur noch einen Unterschenkel hatte. Obwohl ich nicht gefrühstückt hatte, kam mir bittere Galle hoch, die ich auf den Holzfußboden spuckte. Ich tastete nach der Fernbedienung, die unter den Sessel gerutscht war, und schaltete das Video aus. Mühsam zog ich mich an dem Sessel hoch und öffnete den DVD-Player. Ich nahm die DVD heraus, sie war beschriftet mit dem Aufdruck: Joan.
    Oh, mein Gott!
    Ich kroch auf allen Vieren zum Bücherschrank. Da stand es: „Everglades – Das ewige Licht“. Der Name George Osterman prangte in goldenem Schellackdruck auf dem Cover.
    Mit fliegenden Fingern suchte ich die Kapitel ab, die alle Frauennamen trugen, bis ich es fand: „Joan. Die elfte Frau“.

Joan – die

Weitere Kostenlose Bücher