Das 2. Gesicht
sie dort auf der Liege auf DVD gesehen hatte, es gab keinen Zweifel. Sie erinnerte sich an das Foto von der vermissten Frau. Sie hieß Joan Irgendwas. Joan aus Lehigh Acres. Sie war 32 Jahre alt und arbeitete bei der Sun Trust Bank. Ihr Auto war auf dem Parkplatz vom Home Depot gefunden worden.
Ich war kurz davor, in Panik aus dem Haus zu stürmen. Sandra, dachte ich, ich muss Sandra finden. Reiß dich zusammen, Julia!
Ich ging mit zitternden Knien zurück in das angrenzende Zimmer. Es war ein zum Büro umgebautes Wohnzimmer mit Blick auf den Golf von Mexiko. Auf einem halbrunden Schreibtisch standen mehrere Flatscreens. Der Schreibtisch selbst sah aus, als ob er eben nur für ein paar Minuten verlassen worden sei. Mehrere leere Dosen Cola, Georges Lieblingsgetränk, Kaugummipapier, eine Schachtel mit einer halb aufgegessenen Thunfisch-Pizza, viele Papiere mit vielen Zeichnungen, ein Aktenordner, aufgeschlagen, ein falsch zusammengefalteter Stadtplan von Lee County, eine fast leere Tüte M&M’s – aber nichts, was mir verraten könnte, wo ich Sandra finden würde. Ich tippte die Maus an und kriegte einen Schreck, weil sich plötzlich Bilder aufbauten. Auf den Screens erschienen verschiedene Räume. Ich schaute genauer hin und was ich sah, ließ mich vergessen zu atmen.
Ich schaute direkt in mein Schlafzimmer. Mitten auf mein Bett, das gerade von Elly frisch bezogen wurde. Ich sah, wie sie sich abmühte, das Laken über die dicke Matratze zu ziehen. George hatte mich also überwacht, Tag für Tag, besser gesagt, Nacht für Nacht. Hatte er nur das Schlafzimmer im Blick oder das ganze Haus? Auf den anderen Screens waren Liegen zu sehen, ich blickte in ein Nagelstudio und in eine Massagepraxis, oder war das ein Kosmetikstudio? Das war schlecht zu sagen, denn im Moment befand sich offensichtlich keine Kundin auf der Liege.
Die Worte aus Georges Buch schrien mich an:
„
Brazilian Waxing. Er hatte in dem neuen Waxing Studio eine Überwachungskamera installiert. Wo fühlten sich Frauen absolut unbeobachtet, wo würden sie nie einen Mann erwarten? Genau, bei der Kosmetik. Maniküre, Pediküre, Eyelash Extensions, Gesichtsbehandlungen, das waren die Orte, an denen eine Frau nie einen Mann erwarten würde, der sie beobachtet. Niemals.“
Deshalb war er also ausgerastet, weil ich mir Gelnägel gemacht hatte. Aber es war in einem anderen Studio gewesen, dieses Nagelstudio war mir fremd. Die Polizei würde die Studios finden, ich musste sie schnell hierher führen. Ich bewegte die Maus über den Bildschirm, auf dem mein Schlafzimmer zu sehen war. An der Seite baute sich eine Art Menü auf. Verdammt, er hatte in jedem Zimmer in diesem Haus Kameras angebracht. Sogar auf der Toilette. Und wenn man den Ton anklickte, dann konnte man auch hören, wie Elly still vor sich hinbrabbelte. Er hatte also alles mitgekriegt. Meine verzweifelten Gespräche mit Sandra, meine hilflosen Heulkrämpfe. Das hatte ihm wohl Spaß gemacht, meinem feinen Ehemann, wie seine Frau sich in Angst und Tränen wand. Ich zog den Aktenordner näher zu mir und schaute mir das Ding an. Es waren irgendwelche Abrechnungen, für unser Haus, für die Security, für Elly. Na toll.
Aber wo war Sandra? Denn inzwischen hatte ich keinen Zweifel mehr, dass Sandra hier irgendwo verschwunden war.
Ich ging noch mal durch den kleinen Flur in einen Schlafzimmertrakt. Das Bett war ungemacht, eine geblümte Decke lag verkrumpelt am Fußende, es roch klamm und nach ungewaschenen Socken. In der Ecke lag benutzte Unterwäsche. Ich öffnete die Kleiderkammer, die sich direkt neben dem Badezimmer befand. Darin lagen unordentlich Jeans und T-Shirts auf der Ablage, ein paar Sachen hingen auf Bügeln. Ein typischer Junggesellenschrank. Aber nichts, was auf Sandra hindeutete.
Ich lief den kleinen Gang entlang zu einem weiteren Zimmer, einem Schlafzimmer. Hier schien niemand zu schlafen, sowohl das Badezimmer als auch der Wandschrank sahen unbenutzt aus. Ansonsten gab es in dem Haus nichts, wo man eine Frau verstecken konnte. Ich ging in die Küche und sah mein Spiegelbild in der funkelnden, nagelneuen Gefrierkombination. Und in diesem Moment wusste ich, was ich dort finden würde.
Am liebsten wäre ich weggelaufen, laut schreiend weggelaufen. Aus diesem Haus, aus diesem Leben, weg aus Amerika, weg von dem Mann, von dem ich dachte, dass er die große Liebe meines Lebens wäre.
Stattdessen musste ich es sehen. Langsam setzte ich Fuß vor Fuß, mein Herz fühlte sich an wie eine
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