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Das 2. Gesicht

Das 2. Gesicht

Titel: Das 2. Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nika Lubitsch
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ausgeübt?“, fragte ich.
    „Teils, teils.“
    „Was genau heißt das, teils, teils?“, schrie ich. Die Julia da oben merkte, dass ich mich genauso schrill anhörte wie die Möwen, die das Haus umkreisten.
    „Es heißt genau das, was ich sage. Mein Bruder hat meist reale Morde literarisch aufgearbeitet. George hatte ein zweites Gesicht“, sagte J.R.
    „Ein zweites Gesicht? Willst du damit sagen, dass er vor seinem inneren Auge gesehen hat, was du da angestellt hast?“, fragte ich fassungslos.
    J.R. grunzte, wahrscheinlich sollte das ein Lachen sein.
    „Nenn’ es doch, wie du willst. Vielleicht einfach nur Einfühlungsvermögen?“
    „Und was heißt überhaupt Bruder? Du bist Georges Bruder?“
    J.R. hatte sich inzwischen auf das geblümte Sofa gelümmelt. Wir sahen aus, als ob wir auf die Pizza warteten, die Mama gleich aus der Küche bringen würde.
    „Das ist eine lange Geschichte. Er hat sie dir sicher nicht erzählt, stimmt’s? In seiner Biografie hat er sie ja auch verschwiegen, die ganzen Details seiner armseligen Geburt.“
    „Ich dachte, er sei in Burlington aufgewachsen, bei diesem Lehrerehepaar“, sagte ich.
    „Das stimmt auch. Aber es gibt noch etwas, was mein feiner Bruder verschweigt. Als er volljährig war, hat er sich auf die Suche nach seiner leiblichen Mutter gemacht. Hat ihn eine Stange Geld und viel Zeit gekostet. Mutter konnte er natürlich nicht mehr finden. Dafür fand er mich. Du kennst doch ‚Dead End – Ohne Ausweg‘, oder? Tja, mein lieber Bruder hat noch nie irgendeine Geschichte frei erfunden. Soll ich die Stelle zitieren? Oh, ich kann sie alle auswendig, glaub mir.“
    Er fing an, mit theatralischer Stimme zu zitieren.


Dead End – Ohne Ausweg“ von George Osterman
    Es war schon sehr lang her. Das erste Mal, dass er sie gespürt hatte, diese heiße Welle, die über ihn schwappte, die ihm die Luft nahm, war wie Ertrinken, wie ein kleiner Tod, alles wurde rot, blutrot, er konnte nicht atmen, alles war nass, von Blut, ihrem Blut, seinem Blut, diesem verdammten, vergifteten Blut, das er stundenlang mit dem Gartenschlauch abspritzte, das er mit Toilettenreiniger versuchte zu entfernen, das er mit Bleiche verdünnte. Er versuchte es wegzuätzen, aber es ließ sich nicht wegwaschen, nicht wegschrubben, es war in ihm, in seinen Adern, es floss das gleiche verderbte Blut in seinen Adern. Bei dem Gedanken an dieses erste Mal spürte er, wie seine Hose zu eng wurde, er musste nur die Augen schließen und es war alles wieder da. Er öffnete den Reißverschluss seiner Jeans und schwelgte in seliger, blutroter Erinnerung, in die sich ihr Gesicht mischte, dieses neue Gesicht, das so unschuldig daher kam und sich über das erste all dieser Gesichter legte.
    „Halt, das verstehe ich nicht. Ihr hattet dieselbe Mutter?“
    „Mutter“, er spuckte das Wort förmlich aus. „Dass ich nicht lache. Das war keine Mutter, das war eine Schlampe, eine Hure, eine gottverdammte, verfickte Hure. George hat Glück gehabt, er war der Ältere, erst haben sie ihn ihr weggenommen und dann hat sie ihn zur Adoption freigegeben. George hatte immer alles, weil er ja so süß war und so begabt. So ein liebes Kind, das musste man doch gern haben. Er hatte Eltern, die sich um ihn gekümmert haben, einen Vater, der mit ihm Football spielte und angeln ging und Schularbeiten machte. Eltern, die ihm eine Universitätsausbildung finanzierten und alles für ihn taten, für ihren Kronsohn, den sie nicht selbst bekommen konnten. Oh, wie habe ich ihn beneidet, diesen Bruder, von dem mir meine Mutter einmal erzählte, als sie besoffen war. Eigentlich war sie immer besoffen, und wenn sie nicht besoffen war, dann war sie auf Crack oder auf Pillen oder auf allem zusammen. Ich glaube, sie hat auch Mundwasser getrunken, wenn es nichts mehr im Haus gab, was sie angetörnt hat, was sie aus dieser verdammten Bude hinauskatapultiert hat, in ihre Welt der schönen Träume. Und ich war der bedauernswerte Kleine von dieser ‚armen Frau‘, die so undiszipliniert war, die gestrauchelt war, als der Mann, den sie geliebt hatte, ins Gefängnis kam.
    Nein, diese Geschichte hat dir mein Bruder sicher nicht erzählt. Unser Vater war ein Mörder. Nein, keiner, dem das Töten Spaß bereitet hat oder eine Befriedigung gegeben hätte. Unser Vater war Soldat gewesen, da hatten sie ihm das Töten beigebracht, damals in Vietnam. Es war das Einzige, was er gelernt hatte, das Töten. Als der Krieg vorbei war, war sein Lebenszweck nicht

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