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Das 2. Gesicht

Das 2. Gesicht

Titel: Das 2. Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nika Lubitsch
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mehr gefragt. Aber da war Lilly mit ihrem Erstgeborenen, dem süßen kleinen George. Der so gern mit Puppen spielte und sich Mutters Ketten umhängte. Deshalb hat sie ihn zur Adoption freigegeben, als er vier Jahre alt war, hat ihn fortgeschafft aus dem Blick unseres Vaters, der als Wrack aus Vietnam zurückgekommen war und zusehen musste, wie sein Erstgeborener sich wie ein echtes Mädchen benahm. Lilly ahnte wohl, dass Georgilein den Vater nicht lange erleben würde, der Mistkerl hätte seinem Sohn das Mädchenhafte ganz schnell ausgetrieben. Er hat ihn einmal halb tot geprügelt. ‚Er hätte ihn umgebracht, John‘, hatte sie mir gesagt, damals, als sie mir die ganze Scheiße gebeichtet hatte, sabbernd und stammelnd, bevor ich sie in der Küche zerlegt habe. Es war die einzig gute Tat, die sie je in ihrem Leben begangen hatte. Ja, meine Scheißmutter war meine Erste. Warum hat sie mich nicht auch weggeben, warum hat sie mir nicht dieses Leben erspart?“
    J.R. liefen jetzt die Tränen herunter. Die Julia, die mich oben von der Wolke her beobachtete, sagte mir: Stelle Fragen, bleibe ruhig, tue so, als ob all das, was er da von sich gibt, einen Sinn macht. Versuche ihn zu beruhigen.
    „Wie alt warst du, als George zur Adoption freigegeben worden war?“, fragte ich ihn.
    „Ich war noch gar nicht geboren. Dass ich überhaupt einen Bruder hatte, habe ich erst kurz vor der Nacht erfahren, als ich der Alten den Hals umgedreht habe.“
    „Was war dann mit deinem Vater?“, fragte ich, um ihn am Reden zu halten. Solange er redete, brachte er mich nicht um.
    „Er war paranoid, homophob und total neben der Spur. Er kannte nur ein Argument und das waren seine Fäuste. Wir durften ihm nicht widersprechen, sonst rastete er total aus. Ich war bereits zwölf Jahre alt, als wir erfuhren, dass mein Vater ein Serienkiller war. Er hat regelmäßig Schwule auf Parkplätzen angemacht und ihnen dann die Gurgel durchgeschnitten. Paul Roberts, der berüchtigte Schwulenmörder von Savannah. So ging er in die Kriminalgeschichte ein. Während er darauf wartete, von der Todesstrafe begnadigt zu werden, ist er im Gefängnis in Georgia an einem Lungentumor gestorben. Ich hoffe, es war ein qualvoller Tod.“
    „Und deine Mutter trank. Nicht ganz unverständlich, oder?“
    „Die alte Hure hat schon immer getrunken, ich glaube, die war sogar besoffen, als sie meinen Alten geheiratet hat. Sie war eine zahnlose, alte Schlampe, die sich für ein paar Dollar an jeden verkaufte. Oh, wie ich sie gehasst habe, wie ich alle Huren dieser Welt verabscheue.“
    Die Augen von J.R. nahmen einen irren Ausdruck an.
    „Und deshalb bringst du Huren um? Willst du die Welt reinigen?“, fragte ich.
    „Ich will anderen Kindern ersparen, was ich durchmachen musste. Ja, ich versuche, so viele wie möglich verschwinden zu lassen, Huren, Schlampen, den Eiter der Welt, den Auswurf, ich tue mein Bestes.“
    Ich dachte nach. Und plötzlich fiel mir etwas ein.
    „Sag mal, damals, als wir zusammen in Deutschland auf Tournee waren, da gab es in dieser Zeit zwei Morde an Prostituierten. Hast du auch in Deutschland gereinigt?“
    Er legte den Kopf in den Nacken und lachte. Man hätte meinen können, dass wir einen netten Gedankenaustausch auf dem Sofa hatten, direkt neben meinem toten Ehemann. Es fehlten eigentlich nur noch die eisgekühlten Drinks.
    „Nein, ich überlasse nichts dem Zufall. Es ist gefährlich, in einem Land zu arbeiten, dessen Sicherheitssysteme man nicht kennt. Sehr gefährlich.“
    „J.R.“, sagte ich und bemühte mich, meiner Stimme einen vertraulichen Klang zu geben, „du hast vorhin aus Georges Buch ‚Dead End – Ohne Ausweg‘ zitiert. Ich weiß, wie das Zitat weitergeht. Es heißt: ‚
Bereits als er sie das erste Mal gesehen hatte, damals auf dem Flughafen, trug sie eine rote Aura. Sie war gekennzeichnet.‘
Habe ich das richtig zitiert?“
    „Perfekt, du kennst deinen Osterman wirklich auswendig. Ja, genau und absolut wörtlich.“
    „Du hast also von Anfang an vorgehabt, mich zu töten? Vom ersten Moment an, als du mich am Flughafen gesehen hast?“
    J.R. fing an zu lachen. Er lachte, als ob ich den Witz des Jahrhunderts gerissen hätte. Julia auf der Wolke versuchte, mich zu beruhigen.
    „Wollen wir Jeopardy spielen?“, fragte J.R. „Das Zitat ist die Antwort. Wie lautet die Frage?“
    „Die habe ich dir eben gestellt, oder?“
    „Nein“, er schüttelte den Kopf mit der aufgesetzten Munterkeit eines Fernsehmoderators, „das

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