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Das 4. Buch des Blutes - 4

Das 4. Buch des Blutes - 4

Titel: Das 4. Buch des Blutes - 4 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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brutalen Verstümmelung zu bewachen, mit der strikten Anweisung, ihm sofort Bescheid zu geben, wenn Charlie wieder zu sich käme. Rafferty war eingeschlafen; das Gekreisch weckte ihn. Charlie schaute dem Jungen ins Gesicht
    – so starr vor Scheu, so bestürzt. Bei diesem Anblick hörte er auf zu schreien. Er jagte dem armen Kerl Angst ein.
    »Sie sind wach«, sagte Rafferty. »Ich hol’ jemand, ja?«
    Charlie sah ihn verständnislos an.
    »Bleiben Sie, wo Sie sind«, sagte Rafferty. »Ich schau’ nach der Schwester.«
    Charlie legte seinen bandagierten Kopf auf das steife Kissen zurück und sah seine rechte Hand an, ballte, spreizte sie, betätigte die Muskeln, mal so, mal so. Welcher Wahn ihn auch daheim in seinem Haus befallen hatte, jetzt war er jedenfalls völlig vorüber. Die Hand am Ende des Arms war seine; wahrscheinlich auch immer gewesen. Der rebellische Körper –

    Jeudwine hatte ihm von diesem Syndrom erzählt: der Mörder, der lieber behauptet, seine Gliedmaßen führten ein Eigenleben, als die Verantwortung für seine Taten zu übernehmen; der Vergewaltiger, der sich selbst verstümmelt, im Glauben, die Ursache sei das Fehlverhalten des Gliedes, nicht das Bewußtsein hinter dem Glied.
    Also, er würde nichts vorschieben. Er war geisteskrank, auf diese simple Wahrheit lief es hinaus. Sollten sie ihm doch antun, was immer sie mit ihren Drogen, Skalpellen und Elektroden ihm anzutun für nötig hielten. Er würde sich lieber allem fügen, als noch eine weitere Schreckensnacht wie die letzte zu durchleben.
    Da war eine diensttuende Schwester. Sie guckte ihn an, als sei sie überrascht, daß er überlebt hatte. Ein reizendes Gesicht, dachte er vage; eine köstliche, kühle Hand auf seiner Stirn.
    »Ist er vernehmungsfähig?« fragte Rafferty schüchtern.
    »Da muß ich mich mit Dr. Manson und Dr. Jeudwine beraten«, entgegnete das reizende Gesicht und versuchte, Charlie beruhigend anzulächeln. Es geriet ihr ein wenig schief, dieses Lächeln, ein wenig forciert. Sie wußte offenkundig, daß er verrückt war, das war der Grund. Wahrscheinlich ängstigte sie sich vor ihm, und wer konnte ihr das verdenken? Sie ging vom Krankenbett weg, um den Berater aufzutreiben, und überließ Charlie dem nervösen Gestarr Raffertys.
    »… Ellen?« sagte er nach einer Weile.
    »Ihre Frau?« entgegnete der junge Mann.
    »Ja. Ich frag’ mich… ist sie…?«
    Rafferty zappelte herum, seine Daumen spielten Fangen auf seinem Schoß. »Sie ist tot«, sagte er.
    Charlie nickte. Natürlich hatte er es gewußt, aber er mußte ganz sichergehen. »Was geschieht jetzt mit mir?« fragte er.
    »Sie stehen unter Aufsicht.«

    »Was heißt das?«
    »Das heißt, daß ich Sie bewache«, sagte Rafferty.
    Der Junge versuchte sein Bestes, um ihm behilflich zu sein, aber all diese Fragen brachten ihn durcheinander. Charlie versuchte es nochmals. »Ich meine… was kommt nach der Überwachung? Wann stellt man mich vor Gericht?«
    »Weshalb sollte man Sie vor Gericht stellen?«
    »Weshalb?« sagte Charlie. Hatte er richtig gehört?
    »Sie sind ein Opfer…« ein Flackern der Verwirrung zuckte über Raffertys Gesicht. »Das sind Sie doch? Sie haben es nicht wirklich getan … es ist mit Ihnen passiert. Jemand hat Ihnen die… Hand abgeschnitten.«
    »Ja«, sagte Charlie, »das war ich.«
    Rafferty schluckte schwer, ehe er sagte: »Wie bitte?«
    » Ich hab’s getan. Ich hab’ meine Frau ermordet und mir dann die eigene Hand abgeschnitten.«
    Letzteres konnte der arme Junge nicht ganz begreifen. Etwa eine geschlagene halbe Minute dachte er darüber nach, ehe er etwas erwiderte. »Aber warum?«
    Charlie zuckte mit den Achseln.
    »Es ergibt keinen Sinn«, sagte Rafferty. »Ich mein’ erstens einmal – wenn Sie’s getan haben… wo ist dann die Hand geblieben?«
    Lillian hielt den Wagen an. Ein Stückchen weiter vor ihr war etwas auf der Straße, aber sie konnte nicht genau ausmachen, was. Sie war eine strenge Vegetarierin (bis auf freimaurerische Essen mit Theodore) und eine leidenschaftliche Tierschützerin, und sie dachte, daß dort auf der Straße, wo die Scheinwerfer gerade nicht mehr hinreichten, womöglich irgendein verletztes Tier liege. Ein Fuchs vielleicht; sie hatte gelesen, daß sie neuerdings in städtischen Außenbezirken wieder heimisch wurden, die geborenen Abfallverwerter. Aber irgend etwas machte sie unruhig; womöglich der verunsichernde Schein der bevorstehenden Dämmerung, der alle Konturen in vages Zwielicht tauchte. Sie

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