Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das 4. Buch des Blutes - 4

Das 4. Buch des Blutes - 4

Titel: Das 4. Buch des Blutes - 4 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
Vom Netzwerk:
fühlte, wie ihm die Knie zu zittern anfingen, und er sackte auf den Eßzimmerteppich, die Augen schwammen ihm jetzt zu sehr, um die Rebellen, die sich um ihn scharten, deutlich zu sehen. Er hatte den Eindruck, daß etwas Fremdes auf seinem Schoß saß, und schaute hinunter; es waren seine eigenen zwei Hände. Gerade eben berührten sich ihre Zeigefinger, Spitze gegen manikürte Spitze. Langsam, mit gräßlicher Absichtlichkeit in ihrer Bewegung, hoben die Zeigefinger ihre nagelbewehrten Köpfe und schauten hinauf zu ihm. Dann drehten die Hände sich um hundertachtzig Grad und begannen, seinen Brustkasten hinaufzukriechen, fanden Fingerhalt in jeder Falte, jedem Knopfloch seiner italienischen Jacke. Abrupt endete der Aufstieg an seinem Hals, und Jeudwine ebenfalls.
    Charlies linke Hand hatte Angst. Sie brauchte Beruhigung, brauchte moralische Unterstützung. Mit einem Wort, sie brauchte die Rechte. Schließlich war ja die Rechte der Messias dieses neuen Zeitalters, erfüllt von der Vision einer Zukunft ohne den Leib. Jetzt brauchte die von der Linken aufgestellte Armee wenigstens einen Schimmer dieser Vision, oder sie würde in Kürze zu einem Schlächtermob verkommen. Eine solche Entwicklung hätte die alsbaldige Niederlage zur Folge; das war eine historisch verbürgte Gesetzmäßigkeit von Revolutionen.
    Also hatte die Linke ihre Gefolgschaft wieder nach Hause geführt, um Charlie an dem Ort zu suchen, wo sie ihn zuletzt gesehen hatte. Freilich eine vergebliche Hoffnung zu glauben, er sei hierher zurückgekehrt, aber es war ein Akt der Verzweiflung.
    Die Umstände jedoch hatten die Aufrührer nicht im Stich gelassen. Zwar war Charlie nicht dagewesen, dafür aber Dr.
    Jeudwine, und Jeudwines Hände wußten nicht nur, wohin man Charlie gebracht hatte, sondern auch den Weg dorthin und sogar das Bett, in dem er lag.
    Boswell hatte nicht wirklich gewußt, weshalb er rannte oder wohin. Seine kritischen Fähigkeiten waren lahmgelegt, Ortskenntnis und Orientierungssinn völlig verworren. Aber irgendein Teil von ihm schien zu wissen, wohin er unterwegs war, selbst wenn er davon nichts mitbekam, denn sobald er auf Höhe der Brücke war, begann er das Tempo zu beschleunigen, und dann ging der gemächliche Trott in einen Spurt über, der auf seine brennenden Lungen oder pochenden Schläfen keinerlei Rücksicht nahm. Noch immer frei von jeglicher Absicht, bis auf die zu entkommen, wurde ihm jetzt klar bewußt, daß er die Bahnstation umgangen hatte und parallel zum Schienenstrang lief. Er ging einfach dorthin, wo seine Beine ihn hintragen wollten, und das war der Anfang und auch das Ende.
    Der Zug kam plötzlich aus der Dämmerung. Er pfiff nicht, warnte nicht. Vielleicht bemerkte der Fahrer Boswell, aber wahrscheinlich nicht. Und selbst wenn, hätte man den Mann für die nachfolgenden Ereignisse nicht verantwortlich machen können. Nein, es war ganz allein Boswells eigenes Verschulden, wie da plötzlich seine Füße Richtung Bahnlinie abschwenkten und ihm die Knie einknickten, so daß er quer über die Schienen fiel. Sein letzter zusammenhängender Gedanke, während die Räder ihn erreichten, war, daß der Zug nichts weiter wollte, als von A nach B zu gelangen, und ihm dabei säuberlich die Beine zwischen Leistengegend und Knie durchtrennte. Dann war er unter den Rädern – die vorbeiratternden Waggons über ihm –, und der Zug stieß einen Pfiff aus (einem Schrei täuschend ähnlich), der ihn ins Dunkel fortriß.
    Gleich nach sechs lieferten sie den jungen Schwarzen ins Krankenhaus ein. Der Krankenhaustag begann früh, und tief schlafende Patienten wurden gerade aus ihren Träumen wachgerüttelt, um sie einem weiteren langen und öden Tag auszusetzen. Tassen voll grauem, wäßrig-fadem Tee wurden in verärgerte Hände geschoben, Temperaturen gemessen, Medikamente verteilt. Der Junge und sein schrecklicher Unfall erregten so gut wie gar kein Aufsehen.
    Charlie träumte wieder. Nicht einen seiner Oberer-Nil-Träume, mit freundlicher Genehmigung der Hollywood Hills, nicht vom kaiserlichen Rom oder den Sklavenschiffen Phöniziens. Der hier war etwas in Schwarzweiß. Er träumte, er liege in einem Sarg. Ellen war da (offenbar hinkte sein Unterbewußtes noch der Tatsache ihres Todes hinterher) und seine Mutter und sein Vater. Tatsächlich war sein ganzes Leben zugegen. Jemand kam (war es Jeudwine? Die tröstende Stimme schien vertraut), um freundlicherweise den Deckel seines Sarges zuzuschrauben, und er versuchte, die Trauernden

Weitere Kostenlose Bücher