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Das 4. Buch des Blutes - 4

Das 4. Buch des Blutes - 4

Titel: Das 4. Buch des Blutes - 4 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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schwankte, ob sie aussteigen sollte oder nicht. Theodore hätte natürlich gesagt, sie solle einfach weiterfahren, aber schließlich hatte Theodore sie verlassen, oder? Ungehalten über Lillians Unentschlossenheit, trommelten ihre Finger aufs Lenkrad. Angenommen, es war ein verletzter Fuchs: Davon gab’s mitten in London nicht so viele, daß man es sich leisten konnte, auf der anderen Straßenseite daran vorbeizufahren. Sie mußte die Samariterin spielen, selbst wenn sie sich wie eine Pharisäerin vorkam.
    Vorsichtig stieg sie aus, und natürlich war, nach dem ganzen Getue, nichts zu sehen. Sie marschierte vor das Auto, bloß um sicherzugehen. Ihre Handflächen waren naß. Spasmen der Erregung durchzuckten ihre Hände wie kleine Elektroschocks.
    Dann das Geräusch: das Gewisper Hunderter winziger Füße.
    Sie hatte Geschichten gehört – abstruse Geschichten ihrer Meinung nach – von wandernden Rattenmeuten, die nachts die City durchquerten und jedes Lebewesen, das ihnen über den Weg lief, bis auf die Knochen verschlangen. Bei der Vorstellung von Ratten kam sie sich noch mehr wie eine Pharisäerin vor als sonst und trat zum Wagen zurück. Als sich ihr langer, von den Scheinwerfern auf den Asphalt projizierter Schatten verlagerte, enthüllte er den ersten aus der Meute. Es war keine Ratte.
    Eine Hand, eine langfingrige Hand, schlenderte gemächlich in den gelblichen Lichtschein und zeigte zu ihr hinauf. Kaum war sie aufgetaucht, folgte ihr auch schon ein zweites Exemplar der unmöglichen Kreaturen, dann ein Dutzend weitere, und nach diesen nochmals ein Dutzend dichtauf. Sie bildeten eine kompakte Masse wie Krabben gedrängt, klickend geschnellte, schnippende Beine, während sie sich formierten.
    Schiere Multiplikation machte sie keineswegs glaubhafter; aber eben als Lillian den Anblick verwarf, begannen sie, gegen sie vorzurücken. Sie machte einen Schritt rückwärts.
    Sie spürte die Seitenfläche des Wagens im Rücken, drehte sich um und langte nach der Tür. Die war nur angelehnt, Gott sei Dank. Die Spasmen in ihren Händen waren jetzt schlimmer, aber noch hatte sie sie in ihrer Gewalt. Als ihre Finger die Tür suchten, stieß sie einen kleinen Schrei aus. Eine dicke, schwarze Faust hockte breit auf dem Griff, das offene Handgelenk ein getrocknetes Knäuel Fleisch.
    Unvermittelt auf gräßliche Weise, begannen Lillians Hände zu applaudieren. Plötzlich hatte sie deren Verhalten nicht mehr unter Kontrolle; wie wild gewordene Wesen beklatschten sie anerkennend diesen Coup. Es war lachhaft, was sie tat, aber sie konnte nicht anders. »Hört auf damit«, sagte sie zu ihren Händen, »hört auf! Hört auf damit!« Abrupt hörten sie auf und drehten sich um, sie anzusehen. Sie wußte, daß sie sie ansahen, auf ihre augenlose Art, empfand auch, daß sie ihren gefühllosen Umgang mit ihnen satt hatten. Ohne Warnung fuhren sie auf ihr Gesicht los. Die Nägel, Lillians Stolz und Freude, fanden ihre Augen. Innerhalb von Sekunden war das Wunder der Sehkraft schleimiger Unrat auf ihrer Wange.
    Geblendet verlor sie jegliche Orientierung und fiel nach hinten, aber haufenweise waren Hände da, um sie aufzufangen. Sie fühlte sich von einem Meer aus Fingern getragen.
    Als sie ihren mißhandelten Körper in einen Graben kippten, ging ihre Perücke ab, für die Theodore in Wien so viel bezahlt hatte. Und ihre Hände, nach minimaler Überredung, ebenfalls.
    Dr. Jeudwine kam die Treppe des George-Hauses herunter und fragte sich (fragte sich, mehr nicht), ob womöglich der Großpapa seiner geheiligten Profession, Freud, sich geirrt habe.
    Die paradoxen Tatsachen menschlichen Verhaltens schienen nicht in jene sauberen klassischen Schubladen zu passen, denen er sie jeweils zugeordnet hatte. Vielleicht war der Versuch, das menschliche Seelenleben rational zu erfassen, ein Widerspruch in sich. Jeudwine stand in der Düsternis am unteren Treppenabsatz und hatte keine besondere Lust, wieder in das Eßzimmer oder die Küche zu gehen, fühlte sich aber verpflichtet, die Schauplätze der Verbrechen doch noch einmal in Augenschein zu nehmen. Das leere Haus machte ihn schaudern. Und darin allein zu sein, selbst mit einem wachhabenden Polizisten auf der Haustürschwelle, trug nicht zu seiner Gemütsruhe bei. Er fühlte sich schuldig, fühlte, daß er Charlie im Stich gelassen hatte. Offenkundig hatte er Charlies Psyche nicht tief genug durchfischt, um den eigentlichen Fang heraufzubefordern, das wahre Motiv hinter den beängstigenden Taten,

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