Das 4. Buch des Blutes - 4
die er begangen hatte. Die eigene Frau, die so innig zu lieben er beteuert hatte, im Ehebett zu ermorden; sich dann die eigene Hand abzuhacken – es war unvorstellbar. Einen Augenblick schaute Jeudwine seine eigenen Hände an, das Geflecht aus Sehnen und purpurnen Adern an seinem Handgelenk. Die Polizei favorisierte noch immer die Einbrechertheorie, aber für ihn bestand kein Zweifel, daß Charlie die Taten begangen hatte – den Mord, die Verstümmelung und das alles. Der einzige Sachverhalt, der Jeudwine noch mehr entsetzte, war, daß er in seinem Patienten auch nicht den geringsten Hang zu solchen Taten aufgedeckt hatte.
Er ging ins Eßzimmer. Die Mordkommission hatte ihre Arbeit im Haus beendet. Auf einer Anzahl Oberflächen befand sich noch eine dünne Staubschicht Fingerabdruckpuder. War schon ein Wunder, oder, wie sich jede menschliche Hand von der anderen unterschied? Die Spiralzeichnung so einzigartig wie ein Stimm-Muster oder ein Gesicht. Er war von Charlies Anruf mitten in der Nacht geweckt worden und seitdem noch nicht zum Schlafen gekommen. Er hatte zugesehen, wie Charlie verbunden und abtransportiert wurde, zugesehen, wie die Ermittlungsbeamten ihrer Arbeit nachgingen, zugesehen, wie drüben Richtung Themse eine schellfisch-weiße Dämmerung ihren Kopf erhob; er hatte Kaffee getrunken, Trübsal geblasen, ernsthaft darüber nachgedacht, seine Stellung als Psychiater aufzugeben, ehe diese Geschichte in den Zeitungen erschiene; mehr Kaffee getrunken, sich die Resignation aus dem Kopf geschlagen, und jetzt erwog er allen Ernstes, an Freud oder jedem anderen Guru verzweifelnd, einen Bestseller über seine Erfahrungen mit dem Gattinnenmörder Charles George. Auf diese Weise würde für ihn, selbst wenn er seinen Job verlöre, aus der ganzen traurigen Episode doch noch etwas herausspringen. Und Freud? Wiener Scharlatan. Was hatte der alte Opiumesser schon irgend jemandem zu sagen?
Er ließ sich in einen der Eßzimmersessel plumpsen und lauschte dem Schweigen, das sich auf das Haus gesenkt hatte, als ob die Wände, schockiert von dem, was sie gesehen hatten, den Atem anhielten. Womöglich döste er einen Moment lang ein. Im Schlaf hörte er ein Schnappgeräusch, träumte einen Hund dazu und erwachte, um eine Katze in der Küche zu sehen, eine dicke, schwarzweiße Katze. Charlie hatte diesen vierbeinigen Hausgenossen beiläufig erwähnt. Wie hieß sie noch? Sodbrennen. Ja, richtig; hieß so wegen der schwarzen Kleckse über ihren Augen, die ihr ständig einen gereizten Ausdruck gaben. Die Katze schaute das auf dem Küchenboden vergossene Blut an und versuchte offenbar herauszufinden, wie sie die Lache umgehen und ihre Futterschale erreichen konnte, ohne sich die Pfoten in der Schweinerei, die ihr Herr hinterlassen hatte, zu bespritzen. Jeudwine sah zu, wie sie wählerisch ihren Weg über den Küchenboden suchte und an ihrer leeren Schale schnupperte. Es kam ihm nicht in den Sinn, das Vieh zu füttern; er haßte Tiere.
Also dann, beschloß er, es hatte keinen Zweck mehr, noch länger in dem Haus zu bleiben. Er hatte alle geplanten Akte der Reue geleistet, fühlte sich so schuldig, wie er gefühlsmäßig dazu in der Lage war. Schnell noch einmal oben nachschauen, bloß für den Fall, daß er einen Hinweis übersehen hatte, dann würde er gehen.
Er war schon am unteren Treppenabsatz, ehe er die Katze miauen hörte. Miauen? Nein, eher schon markerschütternd kreischen. Bei diesem Schrei spürte er sein Rückgrat wie eine in der Mitte des Rückens hinablaufende Eissäule; so gefroren wie Eis und so zerbrechlich. Überstürzt ging er seinen Weg zurück, durch die Halle ins Eßzimmer. Der Kopf der Katze war auf dem Teppich und wurde herumgerollt von zwei – von zwei
– (sag es, Jeudwine) – Händen .
Er schaute über das Spiel hinweg in die Küche, wo ein Dutzend weiterer Biester über den Boden hin und her huschten.
Manche befanden sich auf der Geschirrschrankplatte und schnupperten umher; andere kletterten die imitierte Ziegelmauer hinauf, um zu den noch im Halter hängenden Messern zu gelangen.
»Ach Charlie…« sagte er müde und tadelte den abwesenden Irren. »Was hast du angerichtet?«
Die Tränen begannen ihm in die Augen zu steigen; nicht wegen Charlie, sondern wegen der Generationen, die noch kommen würden, nachdem er, Jeudwine, zum Schweigen gebracht war. Einfältige, vertrauensvolle Generationen, die der Wirksamkeit von Freud und der Heiligen Schrift der Vernunft Glauben schenken würden. Er
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