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Das 4. Buch des Blutes - 4

Das 4. Buch des Blutes - 4

Titel: Das 4. Buch des Blutes - 4 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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weißt du«, sagte Charlie. »Ich hab’ sie weglaufen sehen. Und jetzt willst du das auch, hab’ ich recht?
    Du willst auf und davon.«
    Ganz recht .
    »Du wirst mich nicht in Frieden lassen, eh’ du nicht in Freiheit bist, oder?«
    Wieder richtig.
    »Schön«, sagte Charlie. »Ich denke, wir wissen Bescheid.
    Und ich bin bereit, ein Abkommen mit dir zu treffen.«
    Seine Schlafanzugjacke hinaufkriechend, rückte die Hand seinem Gesicht näher, verschwörerisch.
    »Ich laß’ dich frei«, sagte er.
    Jetzt war sie an seinem Hals, ihr Zugriff zwar nicht fest, aber zutraulich genug, um ihn nervös zu machen.
    »Ich finde einen Weg, das versprech’ ich dir. Eine Guillotine, ein Skalpell, was weiß ich.«
    Jetzt rieb sie sich an ihm wie eine Katze, streichelte ihn.
    »Aber du mußt es auf meine Art tun, und dann, wenn es mir paßt. Denn wenn du mich umbringst, hast du keine Überlebenschance, nicht? Dann begraben sie dich bloß mit mir, so wie sie Papas Hände begraben haben.«
    Die Hand hörte zu streicheln auf und kletterte seitlich den Aktenschrank hoch. »Gilt das Abkommen?« sagte Charlie.
    Aber die Hand beachtete ihn nicht. Sie hatte plötzlich jegliches Interesse an Vereinbarungen verloren. Hätte sie eine Nase besessen, dann hätte sie die Luft geschnuppert. Innerhalb der letzten wenigen Augenblicke hatte sich die Lage geändert.
    Das Abkommen war null und nichtig.
    Unbeholfen stand Charlie auf und ging zum Fenster. Die Scheibe war innen verdreckt und außen von mehrjährigem Vogelkot überkrustet, aber er konnte durch sie gerade noch den Garten sehen. Der war gemäß den Bedingungen des Millionärslegats angelegt worden: ein streng symmetrischer Garten, der sich als glorioses Denkmal für Chaneys guten Geschmack behaupten würde, so wie das Gebäude eins für seine pragmatische Handlungsweise war. Aber seit der Verfall des Trakts eingesetzt hatte, hatte man den Garten sich selbst überlassen. Die wenigen Bäume waren entweder abgestorben oder von der Last unbeschnittener Zweige gebeugt; die Rabatten strotzten vor Unkraut; die Bänke waren umgestürzt, ihre Vierkantbeine in der Luft. Nur der Rasen wurde offenbar regelmäßig gemäht, ein kleines Zugeständnis an die Pflege.
    Jemand, ein Arzt, der sich kurz eine ruhige Zigarettenpause genehmigte, schlenderte inmitten der zugewucherten Gehwege herum. Ansonsten war der Garten leer.
    Aber Charlies Hand war oben an der Scheibe, scharrte an ihr, kratzte mit den Nägeln an ihr, versuchte vergeblich, in die Außenwelt zu gelangen. Offenbar mußte außer dem Chaos noch etwas da draußen sein.
    »Du willst raus«, sagte Charlie.
    Die Hand legte sich flach gegen das Fenster und begann, mit der Innenfläche rhythmisch gegen das Glas zu schlagen, ein Trommler für eine nicht sichtbare Armee. Er zog sie weg vom Fenster, wußte nicht, was er machen sollte. Wenn er ihren Forderungen nicht Folge leistete, könnte sie ihn verletzen.

    Wenn er ihr nachgab und versuchte, in den Garten hinauszugelangen, was würde er wohl finden? Andererseits blieb ihm denn eine Wahl?
    »Schon gut«, sagte er, »wir gehen.«
    Im Korridor herrschte übernervöse Aktivität, und kaum jemand nahm von ihm die leiseste Notiz, obwohl er nur seine Schlafanzuguniform trug und barfuß war. Klingeln läuteten, Sprechanlagen riefen diesen oder jenen Arzt, fassungslose Angehörige wurden zwischen Leichenhalle und Toilette herumbugsiert. Gesprächsthema waren die Schreckensbilder auf der Unfallstation: Jungen ohne Hände, Dutzende davon.
    Charlie bewegte sich zu schnell durch das Gedränge, um einen zusammenhängenden Satz aufzuschnappen. Am besten war es, konzentriert dreinzuschauen, dachte er, dreinzuschauen, als ob er eine Absicht und ein Ziel hätte. Er brauchte eine Weile, um den Ausgang in den Garten ausfindig zu machen, und er wußte, daß seine Hand langsam ungeduldig wurde. Sie öffnete und schloß sich neben ihm, trieb ihn weiter. Dann ein Schild: ZUM
    CHANEY-TRUST-MEMORIAL-GARTEN, und er bog um die Ecke, in einen abgelegeneren Korridor, ohne Verkehrsgedrängel, mit einer Tür am andern Ende, die ins Freie führte.
    Draußen war es sehr still. Kein Vogel in der Luft oder auf dem Gras, keine weinerliche Biene inmitten der Blumenköpfe.
    Selbst der Arzt war verschwunden, zurück zu seinen chirurgischen Eingriffen vermutlich.
    Charlies Hand war jetzt völlig außer sich. Sie schwitzte so stark, daß sie tropfte, und alles Blut war aus ihr zurückgeströmt, so daß sie weiß war vor Blässe. Sie schien

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