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Das 4. Buch des Blutes - 4

Das 4. Buch des Blutes - 4

Titel: Das 4. Buch des Blutes - 4 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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nicht mehr ihm zu gehören. Sie war ein anderes Wesen, an das er, dank irgendeiner verhängnisvollen Laune der Anatomie, befestigt war. Es würde ihn überaus freuen, sie los zu sein.
    Das Gras unter seinen Füßen war taufeucht, und hier, im Schatten des siebenstöckigen Trakts, war es kalt. Es war noch nicht später als halb sieben. Womöglich schliefen die Vögel noch, hingen die Bienen noch schwerfällig in ihren Stöcken.
    Womöglich gab es in diesem Garten gar nichts zum Fürchten, nur fäulnisköpfige Rosen und frühe Würmer, die im Tau Purzelbäume schlugen. Womöglich irrte sich diese Hand, und es war einfach Morgen hier draußen.
    Während er weiter in den Garten hinausschlenderte, bemerkte er die Fußspuren des Arztes, dunkler auf dem silbrig-grünen Rasen. Als er bei dem Baum ankam und das Gras sich rötete, erkannte er, daß die Spuren nur in eine Richtung führten.
    Boswell, in einem bereitwilligen Koma, spürte nichts und war froh darüber. Verschwommen dämmerte ihm die Möglichkeit des Erwachens, aber der Gedanke war so vage, daß er leicht zurückzuweisen war. Hin und wieder flirrte ein Fitzchen der wirklichen Welt (des Leids, der Macht) hinter seinen Lidern vorbei, einen Augenblick lang sich niederlassend, um dann davonzuflattern. Boswell wollte nichts davon. Er wollte das Bewußtsein nicht, nie wieder. Er hatte eine intuitive Ahnung von dem, was das Wachsein bringen würde; von dem, was ihn da draußen, von einem Bein aufs andere tretend, erwartete.
    Charlie schaute hinauf in die Zweige. Der Baum trug zwei erstaunliche Sorten Früchte.
    Die eine war ein menschliches Wesen: der Chirurg mit der Zigarette. Er war tot, sein Hals in die Gabelung zweier Äste geklemmt. Er hatte keine Hände. Seine Arme endeten in runden Wunden, die noch immer schwere Gerinnselklumpen von leuchtender Farbe auf das Gras hinunter abfließen ließen.
    Über seinem Kopf wimmelte der Baum von jener anderen, noch unnatürlicheren Fruchtsorte. Die Hände waren überall, so schien es: Hunderte von ihnen, die beim Diskutieren ihres weiteren Vorgehens wie ein Händeparlament drauflosplapperten. Alle Schattierungen und Formen, die schwankenden Äste hinauf und hinab tollend.
    Sie auf diese Weise versammelt zu sehen, machte alle Metaphern zuschanden. Sie waren, was sie waren: Menschenhände. Das war der Horror.
    Charlie wollte losrennen, aber seine rechte Hand spielte da nicht mit. Dies waren ihre Jünger, in so großer Anzahl hier versammelt, und sie warteten auf ihre Gleichnisse und Prophezeiungen. Charlie sah den toten Arzt und dann die mörderischen Hände an und dachte an Ellen, seine durch kein ihm zuzuschreibendes Verschulden getötete und bereits kalte Ellen. Für dieses Verbrechen würden sie bezahlen: allesamt.
    Sofern ihm sein restlicher Körper noch zu Diensten stand, würde er dafür sorgen, daß sie bezahlten. Es war Feigheit, mit diesem Krebs an seinem Handgelenk verhandeln zu wollen; das sah er jetzt ein. Eine Seuche waren der und seinesgleichen.
    Für sie war im Leben kein Platz.
    Die Armee hatte ihn erblickt, wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht von seiner Gegenwart in ihren Reihen.
    Schubweise drängten sie den Stamm hinunter, einige fielen wie reif gewordene Äpfel von den unteren Ästen, erpicht darauf, den Messias zu umarmen. In wenigen Minuten würden sie in Schwärmen über ihn, Charlie, herfallen, und jeglicher Vorsprung wäre dahin. Also; jetzt oder nie. Er wandte sich von dem Baum ab, ehe seine rechte Hand einen Zweig packen konnte und schaute, nach einer Eingebung suchend, am Chaney-Memorial-Flügel empor. Der Trakt türmte sich über dem Garten auf, die Fenster vom Himmel geblendet, die Türen geschlossen. Dort gab es keinen Trost.
    Hinter sich hörte er das Gras flüstern, das von zahllosen Fingern niedergetreten wurde. Sie waren ihm bereits auf den Fersen, ganz Feuer und Flamme, hängten sie sich folgsam an ihren Führer.

    Natürlich würden sie ihm folgen, konstatierte er, wohin er auch führte, sie würden folgen. Vielleicht war ihre blinde Verehrung seiner übriggebliebenen Hand eine ausnutzbare Schwäche. Ein zweites Mal musterte er das Gebäude, und sein verzweifelter Blick stieß auf die Nottreppe: sie zickzackte seitlich am Gebäude zum Dach hinauf. Er stürzte darauf los, selbst überrascht von seinem Spurt. Es blieb ihm keine Zeit, sich umzuschauen und zu checken, ob sie auch dranblieben, er mußte sich auf ihre Ergebenheit verlassen. Nach wenigen Schritten war seine rasende Hand

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