Das 4. Buch des Blutes - 4
an seinem Hals und drohte, ihm die Kehle herauszureißen, aber er sprintete weiter, gleichgültig gegenüber ihrem Gekralle. Er erreichte den unteren Absatz der Nottreppe und nahm, geschmeidig vor Adrenalin, zwei, drei Metallstufen auf einmal. Ohne eine Hand zum Festhalten am Schutzgeländer war sein Gleichgewicht nicht besonders gut, aber was machte es schon, wenn er sich Prellungen holte? Es war ja nur sein Körper.
Auf dem dritten Treppenabsatz riskierte er durch das Treppengitter einen kurzen Blick nach unten. Ein wuselnder Teppich aus Fleischblumen bedeckte beim unteren Absatz der Nottreppe den Boden und breitete sich bereits die Stufen hinauf aus, hinter ihm her. Sie kamen, in hungrigen Hundertschaften, die Nägel gezückt und von Haß durchdrungen. Sollen sie kommen, dachte er, sollen die Sauhunde nur kommen. Ich hab’
das angefangen, ich bring’ es auch zu Ende.
An den Fenstern des Chaney-Memorial-Trakts zeigte sich nunmehr eine Unzahl Gesichter. Angstverstörte, ungläubige Stimmen wehten von den unteren Stockwerken herauf. Es war jetzt zu spät, um ihnen seine Lebensgeschichte zu erzählen; sie müßten sich das Ganze selber zusammenstückeln. Und was für ein tolles Puzzle das ergäbe! Vielleicht würden sie bei ihren Bemühungen zu begreifen, was diesen Morgen vorgefallen war, irgendeine plausible Lösung zutage fördern, eine Erklärung für diesen Aufstand, die er nicht gefunden hatte.
Aber er bezweifelte es.
Die vierte Etage jetzt, und weiter treppauf zur fünften. Seine rechte Hand grub sich ihm in den Hals. Womöglich blutete er; aber am Ende war es vielleicht Regen, warmer Regen, der ihm auf die Brust und die Beine hinunterspritzte. Noch zwei Etagen vor ihm, dann das Dach. Ein vibrierendes Dröhnen in der Metallkonstruktion unter ihm, das Geräusch ihrer Myriaden Füße, während sie zu ihm heraufklommen. Er hatte fest auf ihre blindwütige Verehrung gezählt und recht damit behalten.
Zum Dach waren es jetzt nur mehr zwölf Stufen, und er riskierte, an seinem Körper hinab (Regen war’s nicht, was ihn benetzte), einen zweiten Blick nach unten – um die Nottreppe nahtlos mit Händen vollgepackt zu sehen, wie Blattläuse, die in dichten Trauben einen Blumenstengel bevölkern. Nein, das war wieder metaphorisch. Schluß damit.
Der Wind peitschte über die obere Gebäudekante, und er war frisch, aber Charlie hatte keine Zeit, seine Verheißung zu würdigen. Er kletterte über die sechzig Zentimeter hohe Brüstung auf das kiesbestreute Flachdach. Taubenleichen lagen in Pfützen, Risse durchschlängelten die Betondecke, ein Eimer mit der Aufschrift »Gebrauchtes Verbandsmaterial« lag umgekippt da, sein Inhalt grün. Charlie preschte los, quer durch diese Wüste, während die Vordersten der Armee sich über die Brüstung voranfingerten.
Der Schmerz in seiner Kehle drang jetzt, da seine heimtückischen Finger sich würgend an seiner Luftröhre zu schaffen machten, zu seinem rotierenden Hirn durch. Nach der hektischen Erstürmung der Treppe hat er nur mehr wenig Energie und die Überquerung des Dachs bis zur gegenüberliegenden Seite (bitte einen sauberen Sturz, auf Beton) war schwierig. Er strauchelte einmal, und noch einmal.
Aus seinen Beinen war alle Kraft verschwunden, und statt zusammenhängenden Denkens füllte ihm Unsinn den Kopf.
Ein Koan, ein buddhistisches Rätsel, das er einmal auf dem Umschlag eines Buchs gesehen hatte, juckte in seiner Erinnerung.
Wie klingt es wohl…? fing es an, aber den ganzen Satz brachte er nicht zusammen, beim besten Willen nicht. Wie klingt es wohl…?
Vergiß die Rätsel, befahl er sich und drängte seine zitternden Beine, noch einen Schritt zu machen, und dann noch einen. Er fiel beinahe gegen die Brüstung auf der gegenüberliegenden Dachseite und starrte hinunter. Es war ein sauberer Sturz. Da drunten, an der Vorderseite des Gebäudes, lag ein Parkplatz, ganz verlassen. Er lehnte sich weiter vornüber, und Tropfen seines Blutes fielen von seinem zerfleischten Hals, sich rasch verkleinernd, hinab, hinab, um den Boden zu benetzen. Ich komme, sagte er zur Schwerkraft, und zu Ellen, und dachte, wie gut es sei zu sterben, und sich nie wieder zu kränken, wenn beim Zähneputzen sein Zahnfleisch blutete, oder sein Taillenumfang zunahm, oder auf der Straße irgendeine Schönheit an ihm vorbeiging, deren Lippen er küssen wollte und nie küssen würde. Und plötzlich hatte die Armee ihn eingeholt, wimmelte ihm im Siegesfieber die Beine hinauf.
Kommt ruhig,
Weitere Kostenlose Bücher