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Das 4. Buch des Blutes - 4

Das 4. Buch des Blutes - 4

Titel: Das 4. Buch des Blutes - 4 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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Gemüter wie das seine zu betören. Wie sonst war ihre raffinierte Konstruktion zu erklären, wenn nicht damit, daß der Knotenknüpfer sich Mühe gegeben hatte, ein Problem zu schaffen, das so gut wie unlösbar war? Karney ließ seine Finger über die Oberfläche der Knoten gleiten, instinktiv auf der Suche nach irgendeinem Spielraum, aber man hatte sie so brillant ausgetüftelt, dag sich keine auch noch so feine Nadel zwischen die sich überschneidenden Stränge hätte schieben lassen. Die Herausforderung, die sie boten, war zu reizvoll, um sie zu ignorieren. Nochmals blickte er flüchtig zu dem Alten auf.
    Brendan war offenbar seiner Anstrengungen überdrüssig geworden; eben jetzt, vor Karneys Augen, warf er den Alten gegen die Tunnelwand und ließ den Körper zu Boden sinken.
    Dort ließ er ihn dann auch liegen. Ein unverkennbarer Kloakengestank stieg davon auf.
    »Hat gut getan«, verkündete Brendan, wie ein Mann, der gerade ein belebendes Duschbad genommen hat. Die Übung hatte einen Schweißschimmer auf seinen rötlichen Gesichtszügen hervorgerufen; er lächelte von einem Ohr zum anderen. »Gib mir was von dem Wodka, Catso.«
    »Schon alle«, nuschelte Catso und hielt die Flasche verkehrt herum. »War eh’ nur ’ne Gurgel voll drin.«
    »Du bist ein verlogener Scheißer«, sagte Brendan, immer noch grinsend.
    »Na, und wenn schon?« erwiderte Catso und schleuderte die leere Flasche weg. Sie zerbrach. »Hilf mir auf«, forderte er Brendan auf. Letzterer, nach wie vor ausgesprochen gut gelaunt, half Catso auf die Beine. Red war bereits dabei, den Tunnel zu verlassen; die anderen folgten.
    »He, Karney…«, sagte Catso über die Schulter, »kommst du?«
    »Klar.«
    »Willst du den Hund nicht lieber küssen?« schlug Brendan vor. Catso wurde auf die Bemerkung hin vor Lachen beinahe schlecht. Karney gab keine Antwort. Er stand auf, die Augen auf die schlaffe, am Tunnelboden zusammengesackte Gestalt geheftet, und wartete auf ein wenn auch noch so geringes Lebenszeichen. Er konnte keines entdecken. Flüchtig blickte er den anderen nach. Alle drei hatten ihm den Rücken zugekehrt, während sie die Gleisstrecke entlangmarschierten. Rasch steckte Karney die Knoten ein. Der Diebstahl dauerte nur Sekunden. Sobald die Kordel sicher weggesteckt war, durchwogte ihn ein Triumphgefühl, das zu den Gütern, die er gewonnen hatte, in gar keinem Verhältnis stand. Er freute sich schon im voraus auf die Stunden des Vergnügens, die ihm die Knoten verschaffen würden. Zeit, in der er sich selber und seine Leere vergessen konnte; vergessen den unergiebigen Sommer und den bevorstehenden lieblosen Winter; vergessen auch den alten Mann, der Meter von ihm entfernt in seinem eigenen Unrat lag.
    »Karney!« rief Catso.
    Karney kehrte Pope den Rücken und verließ den Körper und den dazugehörigen Wust herumgestreuter Habseligkeiten. Er hatte nur mehr wenige Schritte bis zum Tunnelausgang, als der Alte in seinem Delirium zu murmeln begann. Die Worte waren nicht zu verstehen. Aber durch irgendeinen akustischen Effekt vervielfältigten die Tunnelwände das Geräusch. Zu wiederholten Malen wurde Popes Stimme hin und her geworfen und erfüllte so den Tunnel mit Geflüster.
    Erst viel später an jenem Abend, als Karney allein in seinem Schlafzimmer saß – seine Mutter weinte im Schlummer hinter der nächsten Tür –, hatte er Gelegenheit, die Knoten in Ruhe zu studieren. Weder Red noch den anderen hatte er etwas von seinem Diebstahl gesagt; es war ein so geringes Delikt, daß sie ihn wegen dessen bloßer Erwähnung verspottet hätten. Und außerdem waren die Knoten eine persönliche Herausforderung für ihn, eine, der er sich insgeheim, ohne Zeugen – und eventuell erfolglos – stellen würde.
    Nach einigem Hinundherüberlegen wählte er den Knoten aus, den er als ersten in Angriff nehmen wollte, und begann, ihn zu bearbeiten. Beinahe augenblicklich verlor er jegliches Zeitgefühl; das Problem, nahm ihn völlig in Anspruch. Stunden seliger Frustration verstrichen unbemerkt, während er die Verschlingung analysierte, auf der Suche nach irgendeinem Hinweis auf ein verborgenes System in der Verknotung. Er konnte keinen finden. Die Strukturen, wenn sie denn irgendeine rationale Grundlage hatten, überstiegen seinen Horizont. Ihm blieb nichts anderes übrig, als das Problem nach der Trial-and-error-Methode anzupacken. Dämmerung drohte bereits, die Welt wieder ans Licht zu bringen, als er endlich die Schnur losließ, um ein paar Stunden

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