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Das 5. Buch des Blutes - 5

Das 5. Buch des Blutes - 5

Titel: Das 5. Buch des Blutes - 5 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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leeren Wohnungen da vorn wohl zu bieten hatten.
    Der aggressive Duft von Urin, frischem ebenso wie altem, schlug ihr auf der Schwelle von Nummer 14 entgegen, und, darunter vermengt, der Geruch von verbrannter Farbe und Kunststoff. Volle zehn Sekunden lang zögerte sie, im Ungewissen, ob das Betreten der Maisonette ein vernünftiger Schritt sei.
    Das Territorium der Wohnanlage hinter ihr war unbestreitbar fremd, ganz und gar in sein eigenes Elend verschlossen, aber die Zimmer vor ihr waren noch einschüchternder; ein dunkles Labyrinth, das Helens Augen kaum durchdringen konnten.
    Aber als ihr Mut sie verließ, dachte sie an Trevor und daran, wie sehr sie seiner herablassenden Art einen Dämpfer verpassen wollte. Diesen Gedanken im Kopf, rückte sie ins Innere vor, kickte dabei absichtlich ein Stück verkohltes Bauholz beiseite, in der Hoffnung, es werde einen etwaigen Bewohner veranlassen, sich zu zeigen.
    Kein Laut ließ jedoch auf eine Nutzung der Wohnung schließen. Mit wachsendem Selbstvertrauen begann sie, das
    vordere Zimmer der Maisonette zu erkunden, das - nach den Überresten eines ausgeweideten, verkohlten Sofas in der einen Ecke und dem aufgeweichten Teppich unter ihren Füßen zu urteilen - ein Wohnzimmer gewesen war. Die blaßgrünen Wände waren, wie von Anne-Marie versprochen, ausgiebig verunstaltet, sowohl von minderwertigen Kritzlern - die sich zufriedengaben, mit dem Stift, oder gar noch gröber, mit Sofakohle zu arbeiten - als auch von jenen mit Öffentlichkeitsambitionen, die die Wände in einem halben Dutzend Farben besprüht hatten. Einige der Kommentare waren ganz interessant, obwohl Helen viele schon auf den Außenmauern gesehen hatte. Vertraute Namen und Paarungen wiederholten sich. Obwohl sie diese Personen nie zu Gesicht bekommen hatte, wußte sie, wie dringend Fabian J. (super in Form!) Michelle deflorieren wollte; und daß Michelle ihrerseits auf einen gewissen Mr. Sheen scharf war. Hier, wie anderswo auch, prahlte ein Mann namens Weiße Ratte mit seiner Ausstattung, und in roter Farbe wurde die Rückkehr der Syllabub-Brüder versprochen. Ein oder zwei der Bilder, die diese Sätze begleiteten oder zumindest an sie angrenzten, waren besonders reizvoll. Neben dem Wort Christos befand sich ein Stockmensch, dem die Haare wie Stacheln strahlenförmig vom Kopf abstanden, und auf jeden Stachel war wieder ein Kopf aufgespießt. Dicht daneben befand sich eine so brutal vereinfachte Geschlechtsverkehrdarstellung, daß Helen sie erst für die Abbildung eines Messers hielt, das in ein blindes Auge eintaucht. Aber so faszinierend die Bilder auch waren, das Zimmer war zu düster für Helens Film, und sie hatte es versäumt, ein Blitzlicht mitzunehmen. Wenn sie eine verläßliche Dokumentierung dieser Entdeckungen wollte, würde sie nochmals herkommen und sich im Augenblick mit einer schlichten Erkundung der Räumlichkeiten zufriedengeben müssen.
    Die Maisonette war nicht besonders groß, aber die Fenster
    waren durchweg mit Brettern vernagelt, und während sie sich von der Eingangstür weiter nach drinnen begab, erstarb das ungewisse Licht vollständig. Außerdem nahm der Uringeruch, der schon an der Tür stark gewesen war, an Intensität zu; bis sie den rückwärtigen Teil des Wohnzimmers erreicht und sich einen kurzen Korridor entlang in ein anderes, dahinterliegendes Zimmer vorangetastet hatte, war er so stickig wie Weihrauch-dampf. Dieses Zimmer, das von der Eingangstür am weitesten ablag, war auch das dunkelste, und sie mußte in dem vollgestopften Raum ein paar Sekunden abwarten, ehe sie von ihren Augen halbwegs Gebrauch machen konnte. Hier, nahm sie an, war das Schlafzimmer gewesen. Das wenige Mobiliar, das die Mieter zurückgelassen hatten, war in tausend Stücke zertrümmert worden. Nur die Matratze war relativ unangetastet geblieben: in die Ecke des Zimmers hingeworfen, inmitten eines abstoßenden Durcheinanders aus Decken, Zeitungen und Geschirrscherben.
    Draußen hatte die Sonne sich einen Weg durch die Wolken gebahnt, und zwei oder drei Sonnenstrahlen glitten zwischen den vor das Schlafzimmerfenster genagelten Brettern herein und durchstießen den Raum wie Verkündigungen, markierten mit hellen Streifen die gegenüberliegende Wand. Hier waren die Graffitiproduzenten wieder tätig gewesen; das übliche Tamtam aus Liebesbriefen und Drohungen. Rasch überflog sie die Wand, und dabei folgte ihr Blick wie von selbst den Lichtstrahlen durch das Zimmer zu der Wand, in der sich die Tür befand,

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