Das 5. Buch des Blutes - 5
gründlich verunstaltet, daß die Städtische Gebäudereinigung sich keinerlei Hoffnung machen durfte, ihren früheren Zustand wiederherstellen zu können. Eine zur Beseitigung dieser visuellen Kakophonie aufgetragene Schicht Tünche böte den Schreibern lediglich eine neue und noch verführerischere Oberfläche, um ihre Zeichen zu hinterlassen. Helen war im siebten Himmel. Jede Ecke, um die sie bog, lieferte ihr neues Material für ihre Dissertation Graffiti: zur Semiotik urbaner Hoffnungslosigkeit. In dieser Themenstellung verknüpften sich ihre zwei Lieblingsfächer - Soziologie und Ästhetik -, und während sie in der Wohnanlage umherwanderte, fragte sie sich allmählich, ob nicht außer ihrer Dissertation bereits ein Buch mit derselben Themenstellung existiere. Sie ging von Hof zu Hof und zeichnete dabei, unter jeweiliger Angabe des Standorts, eine Vielzahl der interessanteren Kritzeleien ab.
Dann ging sie zum Wagen zurück, um sich ihre Kamera und ihr Stativ zu holen, und suchte erneut die ergiebigsten Bereiche auf, um ein eingehendes visuelles Protokoll der Wände zu erstellen.
Es war ein frostiges Unterfangen. Helen war keine erfahrene
Fotografin, und der Spätoktoberhimmel befand sich in rastloser Bewegung, veränderte von einem Moment zum anderen das Licht auf den Ziegeln. Während sie, um die Helligkeitswechsel auszugleichen, die Belichtungszeit immer wieder neu einstellte, wurden ihre Finger zusehends unbeholfener und ihre Stimmung dementsprechend mieser. Aber sie plagte sich weiter, ungeachtet der beiläufigen Neugier von Passanten. Es gab so viele Zeichnungen zu dokumentieren. Sie hielt sich vor Augen, daß sie für ihre gegenwärtige Unannehmlichkeit reichlich entschädigt werden würde, wenn sie die Dias Trevor zeigte, dessen Skepsis gegenüber dem Wert des Projekts von Anfang an absolut offenkundig gewesen war. »Die Schrift an der Wand?« hatte er gesagt und dabei andeutungsweise gelächelt, auf diese für ihn typische, irritierende Art. »Das ist schon hundertmal beackert worden.« Das stimmte natürlich;
und doch auch wieder nicht. Sicherlich gab es gelehrte Studien über Graffiti, zum Bersten voll mit soziologischem Jargon:
kulturelle Abkopplung; urbane Entfremdung. Aber sie bildete sich ein, daß sie in diesem Wust von Kritzeleien möglicherweise etwas finden würde, das der bisherigen Forschung entgangen war: irgendein durchgängiges Darstellungsprinzip, das sie als Aufhänger ihrer Dissertation verwenden könnte. Nur eine resolute Katalogisierung und vergleichende Zuordnung der Formulierungen und Bilder vor ihr würde einen derartigen gemeinsamen Grundzug aufdecken;
daher die Wichtigkeit dieser fotografischen Erfassung. So viele Hände hatten hier gearbeitet, so viele Charaktere ihre Signatur hinterlassen, wie zufällig auch immer. Wenn sie irgendeine elementare Struktur finden könnte, irgendein vorherrschendes Movens, ein Motiv, durfte ihr Forschungsbeitrag garantiert mit einigem ernsthaftem Interesse rechnen, und sie dann ihrerseits auch.
»Was tun Sie da?« fragte jemand hinter ihr.
Aus ihren Überlegungen gerissen, drehte sie sich um und
sah hinter sich auf dem Gehsteig eine junge Frau mit einem Kinderwagen. Sie sieht müde aus, dachte Helen, und richtig durchgefroren. Der Kleine im Kinderwagen quäkte, seine beschmierten Finger umklammerten einen orangefarbenen Lutscher und die Umhüllung von einem Schokoriegel. Der größte Teil der Schokolade sowie frühere Hustenbonbonreste waren vorn über seinen Mantel verteilt.
Helen offerierte ein dünnes Lächeln; die Frau machte den Eindruck, als würde sie das dringend brauchen. »Ich mach’
Fotos von den Wänden«, sagte sie als Antwort auf die soeben gestellte Frage, obwohl das sicher absolut offenkundig war.
Die Frau, die nach Helens Einschätzung kaum zwanzig sein konnte, sagte: »Sie meinen, von dem Schweinkram?«
»Von den Sprüchen und den Bildern«, sagte Helen. Dann:
»Ja. Von dem Schweinkram.«
»Sie sin’ von der Stadtverwaltung?« »Nein, von der Universität.«
»Is’ einfach eklig«, sagte die Frau. »Wie sie’s machen. Sin’
übrigens nich’ nur Kids.«
»Nein?«
»Ausgewachsene Männer. Ausgewachsene Männer auch.
Die scheren sich um nichts. Tun’s am hellichten Tag. Wo jeder sie sehen kann… am hellichten Tag.« Flüchtig blickte sie zu dem Kleinen hinunter, der seinen Lutscher auf dem Boden zu-spitzte. »Kerry!« schnauzte sie, aber der Junge nahm keine Notiz davon. »Soll das jetzt abgewischt
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