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Das 5. Buch des Blutes - 5

Das 5. Buch des Blutes - 5

Titel: Das 5. Buch des Blutes - 5 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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durch die sie eingetreten war.
    Auch hier waren die Künstler am Werk gewesen, hatten aber ein Bild geschaffen, das sich von allen bisher gesehenen unterschied. Die in der Mitte der Wand plazierte Tür als Mund einbeziehend, hatten die Künstler einen einzigen riesigen Kopf auf den nackten Putz gesprayt. Das Gemälde war geschickter gestaltet als die meisten, die sie sonst gesehen hatte, von einer Detailfülle, die dem Bild eine beunruhigende Lebendigkeit verlieh. Die Backenknochen ragten durch buttermilchfarbene Haut hervor; die Zahnreihen - zu unregelmäßigen Spitzen geschärftumsäumten die Tür. Die Augen des Modells saßen, wegen der niedrigen Zimmerdecke, bloß eine Handbreit über der Oberlippe, aber diese physiognomische Anpassung verlieh dem Bild nur expressive Wucht, da sie den Eindruck erweckte, der Mann habe den Kopf zurückgeworfen. Verknotete Strähnen seines Haars schlängelten sich von seiner Kopfhaut über die Decke.
    War es ein Porträt? Etwas beklemmend Charakteristisches
    zeigte sich in den Details der Brauen und der Linien um den breiten Mund, in der peniblen Wiedergabe dieser schadhaften Zähne. Sicherlich ein Schreckgespenst; vielleicht die Nachbildung irgendeines im Heroindämmerzustand geschauten Horrors. Worauf es auch basierte, es hatte Ausdruckskraft. Selbst die Tür-als-Mund-Illusion funktionierte. Die kurze Passage zwischen Wohn- und Schlafzimmer konnte als ganz passabler Schlund durchgehen, mit einer zerfetzten Lampe anstelle der Mandeln. Jenseits der Speiseröhre brannte der weiße Tag im Bauch des Schreckgespenstes. Der Gesamteindruck ließ einen unwillkürlich an ein Geisterbahngemälde denken: dieselbe drastische Verzerrung, dieselbe unverschämte Absicht, Angst einzujagen. Und es funktionierte. Geradezu in Trance versetzt von dem Bild, stand Helen im Schlafzimmer; gnadenlos fixier-ten sie die rotgeränderten Augen. Morgen, beschloß sie, würde sie wieder herkommen, dann aber mit einem hochempfindlichen Film und einem Blitzlicht.
    Als sie gerade gehen wollte, verschwand die Sonne hinter einer Wolke, und die Lichtstreifen verblaßten. Flüchtig blickte sie über die Schulter zu den verrammelten Fenstern und bemerkte zum erstenmal den Vier-Worte-Slogan, der unter ihnen auf die Wand gesprayt war.
    »Süßes für die Süße«, lautete er. Das Zitat war ihr vertraut, nicht aber seine Quelle. War es eine Liebeserklärung? Wenn ja, dann war dies hier ein seltsamer Ort für ein solches Geständnis.
    Trotz der Matratze in der Ecke und der relativen Ungestörtheit dieses Zimmers konnte sie sich nicht vorstellen, daß die Adressatin solcher Worte je hier eintreten würde, um ihr Kompliment entgegenzunehmen. Kein noch so erregtes Teenager-Liebespaar würde sich hier hinlegen, um Vater und Mutter zu spielen. Nicht unter dem Starrblick des Schreckensmonsters an der Wand. Sie ging hinüber, um sich die Parole genauer anzuschauen. Die Farbe war allem Anschein nach derselbe Pinkton, wie er zur Kolorierung der Zahnfleischpartien des Schreienden verwendet worden war; vielleicht von derselben Hand?
    Hinter ihr ein Geräusch. Sie drehte sich so rasch um, daß sie fast über die mit Decken übersäte Matratze stolperte. »Wer… ?«
    Am anderen Ende des Schlundes, im Wohnzimmer, stand ein sechs- oder siebenjähriger Junge mit schorfigen Knien.
    Seine Augen glitzerten im Zwielicht, während er Helen anstarrte, als warte er auf ein Stichwort.
    »Ja?« sagte sie.
    »Anne-Marie meint, ob Sie ‘ne Tasse Tee wollen«, erklärte er ohne Pause oder Intonation.
    Ihre Unterhaltung mit der Frau schien Stunden her zu sein.
    Sie war jedoch dankbar für die Einladung. Ihr war richtig kühl geworden in der Feuchtigkeit der Maisonette. »Ja…« sagte sie zu dem Jungen. »Ja, gern.«
    Der Kleine rührte sich nicht, sondern starrte sie einfach weiter an.
    »Zeigst mir den Weg, ja?« fragte sie ihn.
    »Wenn Sie wollen«, antwortet er, außerstande, auch nur eine Spur Begeisterung aufkommen zu lassen.
    »Fänd’ ich nett.«
    »Sie machen Fotos?« fragte er.
    »Ja. Ja, tu’ ich. Aber nicht hier herin.«
    »Wieso nicht?«
    »Es ist zu dunkel«, sagte sie ihm.
    »Funktioniert’s im Dunkeln nicht?« wollte er wissen.
    »Nein.«
    Der Junge nickte dazu, als passe die Information irgendwie gut in seine Sicht der Dinge, und machte ohne ein weiteres Wort kehrt; er erwartete offensichtlich, daß Helen ihm folgte.
    Wenn sie auf der Straße eher einsilbig gewesen war, hier in der Zurückgezogenheit ihrer eigenen Küche war

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