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Das 5. Buch des Blutes - 5

Das 5. Buch des Blutes - 5

Titel: Das 5. Buch des Blutes - 5 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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Ressentiments gegenüber dem Spector-Street-Komplex als irrig erwiesen? Daß so eine Wohnanlage abscheulich zu sein hatte, eine Katastrophe in jeder Hinsicht, eine Müllkippe, in der die Unerwünschten und Benachteiligten vor dem Auge der Öffentlichkeit versteckt wurden - all das war ein liberaler Gemeinplatz, und sie akzeptierte es als unerfreuliches soziales Faktum. Aber die Geschichte von der Ermordung und Verstümmelung des Alten war etwas anderes. Das Bild eines gewaltsamen Todes, das sich, seit es sich in ihr festgesetzt hatte, einfach nicht mehr vertreiben ließ.
    Zu ihrem Verdruß erkannte sie, daß sich diese Verwirrung klar und deutlich auf ihrem Gesicht abzeichnete und daß Trevor, der sie über den Tisch hinweg beobachtete, sich darüber nicht wenig amüsierte.
    »Wenn’s dich so sehr beunruhigt«, sagte er, »wieso gehst du dann nicht wieder hin und hörst dich um, anstatt das ganze Abendessen über Glaub-dran-oder-nicht zu spielen?«
    Auf diese Bemerkung mußte sie ihm einfach herausgeben.
    »Ich dachte, du magst Ratespiele«, sagte sie.
    Er warf ihr einen mürrischen Blick zu. »Wieder falsch.«
    Trevors Vorschlag, sie solle Nachforschungen anstellen, war
    nicht übel, obwohl er dafür zweifellos hintergründigere Motive hatte. Tag für Tag betrachtete sie ihn mit weniger Nachsicht.
    Was sie an ihm einmal für leidenschaftliche Diskussionsbereitschaft gehalten hatte, durchschaute sie jetzt als bloßes Macht-spiel. Er stritt sich nicht wegen der prickelnden Spannung der Dialektik, sondern weil er ein pathologischer Wetteiferer war.
    Immer wieder hatte sie ihn Standpunkte annehmen sehen, von denen sie wußte, daß er sie nicht wirklich vertrat - einfach um Blut zu vergießen. Auch stand er, was die Sache nur verschlimmerte, nicht allein da in diesem Sport. Die akademische Welt war eine der letzten Hochburgen des professionellen Zeitver-schwenders. Gelegentlich schien der Trevorsche Bekanntenkreis vollständig dominiert von gebildeten Idioten, verrannt in eine Öde schaler Rhetorik und hohlen Engagements.
    Von einer Öde zur anderen. Tags darauf kehrte sie zum Spector-Street-Komplex zurück, ausgerüstet mit einem Blitzlichtgerät zusätzlich zu ihrem Stativ und ihrem hochempfindlichen Film. Heute ging ein Wind, und zwar ein arktischer, der hier nur noch wilder tobte, weil er im Labyrinth der Passagen und Häuserkarrees eingefangen war. Sie arbeitete sich zur Nummer 14 vor und verbrachte die nächste Stunde in der besudelten Enge der Maisonette, fotografierte peinlich genau sowohl die Schlafzimmer- als auch die Wohnzimmerwände. Sie hatte insgeheim erwartet, die expressive Wucht des Kopfes im Schlafzimmer werde durch neuerlichen Umgang gemildert; das war nicht der Fall. Zwar strengte sie sich an, ihn in Format und Detail so gut wie nur irgend möglich auf den Film zu bannen, aber sie wußte, daß die Fotografien bestenfalls ein schwacher Widerhall seines ewigen Geheuls sein würden.
    Viel von seiner Macht lag natürlich in seinem Kontext. Daß man auf ein solches Bild in einer so trostlosen, so augenfällig geheimnislosen Umgebung stoßen konnte, das war ganz so, wie wenn man eine Ikone auf einem Abfallhaufen findet: ein schimmerndes Symbol des Übergangs von einer Welt der Plakkerei und des Verfalls in irgendeinen dunkleren, aber gewaltigeren Bereich. Sie wurde sich schmerzhaft bewußt, daß sich die Intensität ihrer Reaktion kaum formulieren ließ. Ihr Wort-schatz war analytisch, vollgestopft mit intellektuellen Wischi-waschiwörtern und Fachterminologie, aber jämmerlich und arm, wenn es galt, etwas plastisch zu schildern. Hoffentlich würden die Fotografien, die sicher nur ein matter Abklatsch sein konnten, doch zumindest eine Ahnung von der ungeheuerlichen Wirkung dieses Bildes vermitteln, auch wenn sie nicht vor Augen führen konnten, wie es einen bis ins Innerste erstarren ließ.
    Als sie aus der Maisonette herauskam, war der Wind so unbarmherzig wie nur je, aber der draußen wartende Jungederselbe, der sie gestern zum Tee abgeholt hatte - war wie für Frühlingswetter angezogen. Grimassen schneidend, bemühte er sich, sein Schlottern einigermaßen zu unterdrücken.
    »Hallo«, sagte Helen.
    »Ich hab’ gewartet«, verkündete der Kleine.
    »Gewartet?«
    »Anne-Marie hat gesagt, Sie kommen wieder.« »Ich hatte eigentlich vor, erst gegen Ende der Woche zu kommen«, sagte Helen. »Da hätt’st du womöglich lang warten können.«
    Die Grimasse des Jungen entspannte sich etwas. »Is’ schon

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