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Das 5. Buch des Blutes - 5

Das 5. Buch des Blutes - 5

Titel: Das 5. Buch des Blutes - 5 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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Anne-Marie das genaue Gegenteil. Verschwunden war die verhaltene Neugier -ersetzt durch einen Strom lebhaften Geplappers und ein fortwährendes flinkes Pendeln zwischen einem halben Dutzend kleinerer häuslicher Aufgaben, wie ein Jongleur, der mehrere Teller gleichzeitig am Rotieren hält. Helen sah diesem Balanceakt mit einiger Bewunderung zu; ihre eigenen häuslichen Fähigkeiten waren nicht der Rede wert. Endlich kehrte die ziellos herumschweifende Unterhaltung zu dem Gegenstand zurück, der Helen hierhergebracht hatte.
    »Diese Fotografien«, sagte Anne-Marie, »wozu wollten Sie die eigentlich machen?«
    »Ich schreib’ über Graffiti. Die Fotos gehören zum Bildteil meiner Doktorarbeit.« »Besonders hübsch is’ es nicht.«
    »Nein, da haben Sie recht, is’ es nicht. Aber ich find’s interessant.«
    Anne-Marie schüttelte den Kopf. »Ich hasse diese ganze Wohnanlage«, sagte sie. »Man ist hier nicht sicher. Leute werden vor ihrer eigenen Tür ausgeraubt. Kids stecken tagein, tag-aus den Abfall in Brand. Diesen Sommer hatten wir drei-, viermal am Tag die Feuerwehr da, bis sie diese Müllschächte zugemauert haben. Jetzt schmeißen die Leute die Tüten einfach in die Durchgänge, und das zieht Ratten an.« »Wohnen Sie hier allein?«
    »Ja«, sagte sie, »seit Davey weg ist.«
    »Is’ das Ihr Mann?«
    »Er ist Kerrys Vater, aber wir waren nie verheiratet. Wir haben zwei Jahre zusammengelebt. Hatten’s zeitweise recht schön miteinander. Und dann is’ er eines Tages, als ich mit Kerry bei meiner Mam war, auf und davon.« Sie guckte in ihre Teetasse. »Ich bin ohne ihn besser dran«, sagte sie. »Aber manchmal kriegst du schon Angst. Woll’n Sie noch Tee?« »Ich glaub’, ich hab’ keine Zeit mehr.« »Bloß eine Tasse«, sagte Anne-Marie bereits im Stehen und steckte den Elektrokessel aus, um ihn wieder aufzufüllen. Gerade als sie den Hahn aufdrehen wollte, sah sie etwas auf der Abtropfplatte und zerdrückte es blitzschnell mit dem Daumen. »Erwischt, du Scheißkerl«, sagte sie, und dann zu Helen: »Wir ham hier diese Drecksameisen.« »Ameisen?«
    »Die ganze Wohnanlage is’ verseucht. Aus Ägypten sind die; Pharao-Ameisen heißen die. Kleine, braune Sauviecher.
    Sie vermehren sich in den Heizungsrohren, wissen Sie. Auf die Art kommen sie in sämtliche Wohnungen. Sind ‘ne wahre Plage hier.«
    Diese unwahrscheinliche Exotik (Ameisen aus Ägypten?)
    kam Helen komisch vor, aber sie sagte nichts. Anne-Marie starrte aus dem Küchenfenster, in den Hinterhof.
    »Sie sollten sie informieren…« sagte sie, wobei sich Helen im unklaren war, wen zu informieren Anne-Marie sie gerade beauftragte, »sie informieren, daß sich unsereiner nicht mal
    mehr auf der Straße aufhalten kann…«
    »Ist es wirklich so schlimm?« sagte Helen und machte kein Hehl daraus, daß sie diesen Unglückskatalog langsam satt hatte.
    Anne-Marie wandte sich vom Ausguß weg und sah sie scharf an. »Hier sin’ Morde passiert«, sagte sie.
    »Wirklich?«
    »Einen hatten wir im Sommer. Ein alter Mann war das, aus’m Ruskin-Block. Das is’ gleich nebenan. Hab’ ihn nicht gekannt, aber er war mit der Schwester von der Frau nebenan befreundet. Hab’ vergessen, wie er hieß.« »Und er wurde ermordet?«
    »Zu Fetzen zerschnippelt in sei’m eigenen Wohnzimmer.
    Erst nach ‘ner knappen Woche ham sie’n gefunden.«
    »Und seine Nachbarn? Haben sie seine Abwesenheit nicht bemerkt?«
    Anne-Marie zuckte mit den Achseln, wie um anzudeuten, daß mit der Mitteilung der Ermordung und Isoliertheit des Mannes das Wesentliche gesagt sei und sich jede weitere Prüfung der Angelegenheit erübrige.
    Aber Helen ließ nicht locker. »Find’ ich aber merkwürdig«, sagte sie.
    Anne-Marie schaltete den vollen Kessel ein. »Na, jedenfalls is’ es passiert«, antwortete sie unbewegt.
    »Das bestreit’ ich ja nicht, nur kann ich…«
    »Man hat ihm die Augen rausgenommen«, sagte sie, ehe Helen noch irgendwelche Zweifel äußern konnte.
    Helen schrak zusammen. »Nein«, sagte sie im Flüsterton.
    »Das ist die Wahrheit«, sagte Anne-Marie. »Und das is’ lang
    nicht alles, was ihm angetan wurde.« Sie machte eine effektvolle Pause, fuhr dann fort: »Sie fragen sich, was für ‘ne Sorte Mensch zu solchen Dingen fähig is’, ja? Das fragen Sie sich.«
    Helen nickte. Eben dieser Gedanke ging ihr gerade durch den Kopf. »Hat man den Verantwortlichen je gefunden?«
    Anne-Marie schnaubte voller Verachtung. »Die Polizei kümmert’s einen Dreck, was hier

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