Das 5. Gebot (German Edition)
Die zärtlichste. Die behutsamste. Die fürsorglichste. Wenn ich doch nur geahnt hätte, wie sie sich gefühlt haben muss. All die Jahre. Was sie für schreckliche Träume gehabt haben muss. Nachts, wenn sie neben dem Bett ihres verstorbenen Mannes lag und leise in ihre Kissen weinte.
Ja, sie hat geweint, ich habe oft gehört, dass sie geschluchzt hat. Aber ich habe gedacht, dass sie vor Sehnsucht nach Vati fast verrückt wird. Dabei hat sie Sehnsucht nach ihrem Kind gehabt, nach Victoria. Deshalb hieß sie Victoria, der Sieg der Hoffnung über den Tod. Es muss sie zerrissen haben. Jede Nacht. Vielleicht hat sie deshalb so viele Nachtschichten gemacht. Nachts kamen die Schatten. George. Ich muss George erreichen.
Sie stellte den Rest des Kaffees in die Ablage und fingerte nach ihrem Handy, das neben ihren Sitz gerutscht war. Was für einen Tag haben wir eigentlich? Freitagabend. Es ist Freitagabend. Niemand ist mehr in Georges Büro. Warum hatte sie nicht früher dort angerufen? Weil es zu einfach war? Zu naheliegend. Ich bin so blöd, so blöd. Zu Hause ging wieder niemand ans Telefon. Entweder George wollte sie nicht zurückrufen. Oder aber der Anrufbeantworter war einfach kaputt. Aber er hätte doch vom Handy ...? Vielleicht ist sein Handy auch kaputt. Ganz schön viele Zufälle auf einen Haufen. Hoffentlich ist ihm nichts passiert. Komm, Vicky, denk nach. Wie kannst du George erreichen? Lisa. Sie musste Lisa anrufen. Aber wo? Auskunft. Natürlich. Lisa, ihre Deutschlehrerin würde ihr helfen.
Und dieser Detektiv Winter. Den musste sie auch anrufen. Sie hatte sich die Nummer ins Handy getippt. Aber zuerst Lisa.
48. Schlachtensee
Er fühlte sich so kräftig und wach wie lange nicht mehr. Seine arthritischen Glieder spürte er trotz der vorgerückten Stunde ebenso wenig, wie ihn sein schlaffer Arm störte, den er seit seinem Schlaganfall vor zwei Jahren nicht mehr richtig bewegen konnte. Er würde seine Kleine retten. Gott hatte ihm eine letzte Chance gegeben. Nein, die würde er nicht auch noch vertun, so wahr er Gerhard Grunwald hieß. Gerhard der Große, er wusste es wohl, dass sie ihn so nannten. Und er wusste auch, dass Michael verbittert dagegen ankämpfte. Der Boss kommt, er hörte es, wenn er mit seinem Fahrer in die Bank fuhr, er hörte es am Tor, wenn er in die Firma fuhr, ja, er würde der Boss bleiben, solange er lebte. Deshalb hatte er Peter zu sich bestellt. Peter Neumann. Sein rettender Engel, sein Beschützer, sein Schatten. Peter Neumann war seit der schweren Zeit, als die RAF es auf sie alle abgesehen hatte, sein Personenschützer gewesen. Er hatte eine eigene Abteilung in der Bank, auch wenn Michael der Meinung war, dass Neumann einfach zu alt geworden sei, um den modernen Anforderungen gerecht zu werden. Michael war manchmal ein wenig naiv. Wie sein Vater, dieser dämliche Spieler. Niemals würde er Neumann vor die Tür setzen, niemals. Er kam aus einer Generation, in der Loyalität noch zählte, ein Handschlag noch Bedeutung hatte.
Peter Neumann war der Einzige, der zumindest ahnte, wie es in ihm ausgesehen hatte, all die Jahre. Wie er sich fühlte hinter seiner versteinerten Maske. Neumann war derjenige, der seine Tochter überall auf der Welt gesucht hatte. Der die führenden Detekteien in aller Herren Länder auf Petras Spur gesetzt hatte. Neumann war derjenige, der über alles informiert war, der auch die kriminellen Seiten dieser Welt kannte. Neumann mit den alten Kontakten zur Polizei und zum BKA. Neumann mit den Kontakten in die Unterwelt.
Neumann hatte ihm auch von den kleinen Geschäften erzählt, die Michael an den Rand des Ruins gebracht hatten. Hatte sein Neffe wirklich geglaubt, dass er ihn nicht überwachen lassen würde? Für wie dämlich hielt dieser Verlierer ihn eigentlich? Er hatte die ganze Zeit gewusst, dass Michael sich mit Lehman-Papieren auf seine Kosten verspekuliert hatte.
„Nun, was sagst du?“, fragte er Neumann, als dieser sich gesetzt hatte.
„Kompliziert, kompliziertes Geflecht.“
„Das weiß ich selbst“, bellte der Alte.
„Isabelle Girard“, sagte Neumann. „Geboren in Lyon als Tochter von Juliette Girard. Girard hat sich vor einigen Wochen das Leben genommen. Ihre Tochter machte daraufhin Urlaub in Berlin und wurde im Riemeisterfenn vergewaltigt und erdrosselt.“
„Isabelle ist Birgit.“
Neumann nickte. „Habe mir so was schon gedacht.“
Grunwald hatte ihn vor ein paar Stunden angerufen und ihn beauftragt, den Namen der Toten aus
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