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Das 5. Gebot (German Edition)

Das 5. Gebot (German Edition)

Titel: Das 5. Gebot (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nika Lubitsch
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Guyana. Es kann doch nicht alles weg sein, was man in seiner Kindheit erlebt. Es ist, als hätte man in diesen frühen Jahren gar nicht existiert. Oder doch? Ela, Ela. Daran konnte sie sich erinnern. An das Rufen. Isabelle hatte um Hilfe gerufen, nach ihr gerufen. Und sie hatte ihr ganzes Leben gewusst, dass da noch jemand war. Irgendwie hatte sie es gewusst. Mami. Verdammt, Mami, meine geliebte, wunderbare Mami. Musste Mum auch sterben, weil sie ein Geheimnis hatte, das auf keinen Fall entdeckt werden sollte? Wieso hatte diese Frau, die ihre Mutter war, sie mit in den Dschungel genommen?
    Mutter? Das war nicht ihre Mutter. Fiona war ihre Mutter und würde immer ihre Mum bleiben. Alles andere stimmte einfach nicht. Mami, meine über alles geliebte Mami. Vicky liefen die Tränen herunter, aus ihrer Nase verabschiedete sich etwas, das sie in besseren Zeiten Rotz genannt hätte. Sie wischte sich mit ihrem Kopftuch das Gesicht ab, sie musste aussehen, wie unter den Steaker gekommen, aber das war jetzt auch egal. Nie, niemals, würde sie eine andere Mutter haben als Mum in Branksome. Was auch immer noch passieren würde, sie war ein Teil dieser Familie, von der jetzt nur noch sie und Onkel Willy übrig waren. Sie sehnte sich nach dem Geruch von Onkel Willy, wie gern würde sie jetzt in seine Arme flüchten. Diese Mischung aus billigen Zigarren, Schnaps und Schweiß. Diese ganz besondere Onkel-Willy-Mischung. Mum und Onkel Willy waren ihre Familie. Und sie würden es immer, immer bleiben. So wie Leo ihr bester Freund war. Er war es auch geblieben, nachdem sie geheiratet hatte, nachdem sie aus London weggegangen war. Nachdem er sich in Ian verliebt hatte. Mein Gott, Ian. Ich muss ihn benachrichtigen. Scheiße. Scheiße. Scheiße.
    Dominique kam mit zwei Bechern Kaffee und einer Tüte Donuts zurück. Er öffnete die Beifahrertür und gab Vicky den heißen Becher in die Hand. „Komm, trinke einen Schluck.“ Vicky schluckte gehorsam. Er hielt ihr die Tüte mit den Donuts hin. Vicky schüttelte den Kopf. Er zog die Decke fester um sie und schloss die Tür zum Beifahrersitz. „Auf nach Berlin, okay?“
    „Ja“, sagte Vicky. „zu meinem Mann. Nach Hause.“
    Ich bin nicht in Berlin zu Hause. Ich bin in Branksome zu Hause. Bin ich etwa Deutsche? Du hast ja gar keine Vorurteile, hatte George gesagt. George. Oh Gott, George. Warum erreichte sie ihn nicht? Hoffentlich war ihm nichts passiert. Sie versuchte, mit einer Hand Georges Nummer anzurufen. Es gelang ihr nicht, das Handy fiel ihr aus der Hand, so sehr zitterte sie. Sie kleckerte sich mit Kaffee voll. Verdammt. Krieg dich wieder ein Vicky, sagte sie sich. Komm, sortier dich.
    „Vielleicht trinkst du erst mal den Kaffee, solange er noch heiß ist“, sagte Dominique. Sein Ton war sanft, fürsorglich. Trotzdem hätte sie ihn am liebsten angeschrien. Wie kam dieser Mann dazu, ihr Vorschriften zu machen? Sie kannte ihn doch gar nicht. Er war der Mann ihrer Schwester. Vicky musterte ihn von der Seite. Er war grau im Gesicht. Auch er hatte sein Liebstes verloren. Sie durfte nicht ungerecht sein. Er fühlte genauso wie sie. Die Frau, die er heiraten wollte, hatte seine Hilfe verschmäht. So wie sie Georges Hilfe verschmäht hatte. Wahrscheinlich fühlte er sich sogar schuldig.
    Wie fühlt man sich, wenn man den liebsten Menschen auf der Welt verliert? Leer. Absolut leer. Ausgelöscht, wie tot. Hat Mum sich so gefühlt, damals, im Dschungel von Guyana? Wie fühlt sich eine Frau, die gerade die Leiche ihres kleinen Mädchens gefunden hat. Schuldig? Weil sie die Kleine dahin gebracht hat? Grauenvoll. Schuld ist kein Gefühl. Genauso wie Leere kein Gefühl ist. Du bist leer. Du fühlst dich nicht leer. Mum konnte nicht mehr richtig denken. Sie war krank, hatte Fieber, war traumatisiert. Ja, heute würde man das traumatisiert nennen. Heute sind sofort ein paar Psychologen zur Stelle, wenn irgendjemand auch nur sieht, dass jemand anderem etwas passiert. Aber die beiden Frauen damals im Dschungel, die haben das ganz allein mit sich abgemacht. Deshalb war Fiona wohl in den letzten Jahren das, was die anderen in ihr sahen. Die Florence Nightingale von Branksome. Der Engel der Kranken, der Armen, der Bedürftigen. Die Mutter Teresa von Dorset. Sie konnte so oft in die Kirche gehen und so viele Bibelkreise abhalten, wie sie wollte, die Schuld, die Erinnerung, das alles würde sie nie nie nie losgelassen haben. Mami, geliebte Mum. Mein Mamilein. Die beste Mutter auf der Welt. Die liebste.

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