DAS 5. OPFER
wollte. Meine ganze Kindheit und Jugend hast du dir so viel Mühe gegeben, mich vor der Wahrheit zu beschützen –du und Lorraine, ihr habt diese ganze mythische Realität geschaffen, darüber, wer meine Mutter war und wo sie hinging, wenn sie nicht zu Hause war. Jetzt denke ich, dass da auch andere Dinge waren, die du vor mir verborgen hast.«
»Wie zum Beispiel?«
»Bist du mein Vater, George?«
Sein Gesicht drehte sich zur Seite, als hätten die Worte ihn getroffen. Dann erholte er sich davon, atmete ein und sah ihr ins Gesicht, starrte sie aber nur an.
»Bitte, George, keine Geheimnisse mehr.«
Er nickte müde. »Sie wollte nie, dass du es erfährst«, sagte er. »Deine Mutter sagte, ich könnte in der Rolle als Freund der Familie so viel an deinem Leben teilhaben, wie ich wollte, dass ich dir aber nie die Wahrheit sagen dürfte. Ich schätze, sie dachte, es wäre besser, dass du dir all die Leute vorstellen würdest, die dein Vater gewesen sein könnten, als mit all den Komplikationen fertig zu werden, die sich daraus ergäben, dass ich es bin.«
Reggie biss sich auf die Lippe, erinnerte sich an die Art, wie Vera immer über George gesprochen hatte: Sie hatte ihn einen Blindgänger genannt, ihn wegen der Enten aufgezogen.
»Weiß es Lorraine?«
»Nein … nun, vielleicht. Ich denke, sie vermutet es, aber sie hat nie gefragt. Sie wusste von meiner Vorgeschichte mit deiner Mutter, soweit man sie als solche bezeichnen kann.« Er blickte auf seine Schuhe hinab.
Es erstaunte Reggie – das verhedderte Nest aus Geheimnissen, in dem sie alle gelebt hatten.
Reggie fragte sich, was sie als Nächstes sagen sollte. Sie fühlte sich ein wenig so, als wäre sie in einem schlechten Tages-Fernsehfilm gelandet: Einer Tochter wird klar, dass der Mann, der eine Vaterfigur für sie gewesen ist, letzten Endes doch ihr tatsächlicher Vater war – sie konnte praktisch hören, wie die schnulzige Musik sich zu einer Art Höhepunkt hin aufbaute. Und das war der Punkt, an dem sie irgendetwas Rührendes sagen sollte, etwas Bedeutungsvolles; etwas, das mit ihnen beiden in einer tränenreichen Umarmung enden würde.
Ihr Kopf war plötzlich leer, alles drehte sich zu schnell, um auch nur einen Gedanken lange genug festhalten zu können, um ihn laut auszusprechen.
George schenkte ihr ein schwaches Lächeln und stand auf. »Wir machen uns besser auf den Weg. Lass mich nur meinen Mantel holen und ein paar Lampen ausschalten. Bin gleich zurück.«
Zurück in der Welt der praktischen Gegebenheiten.
Reggie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. Es würde bald vorbei sein. Sie mussten nur dafür sorgen, dass die Polizei Stu überprüfte, zu seinem Boot fuhr. Vielleicht war das der Ort, wo er Tara gefangen hielt.
Reggie steckte die Akte über Vera und den Brief von Tara zurück in ihre Tasche. Dort, auf dem Boden der Tasche, lag Georges Schwan.
George. Ihr Vater George. Es würde etwas dauern, sich daran zu gewöhnen, doch auf irgendeiner tieferen Ebene wusste sie, dass es die Wahrheit war. Sie fühlte es, fühlte einen Teil von ihm in sich – den logischen, praktischen Teil. Sie verstand den genetischen Ursprung ihrer Vorliebe für Ordnung, für Pläne und Entwürfe, dafür, die Schönheit und die Möglichkeiten, die in einem einzelnen Stück Holz steckten, erkennen zu können.
Sie fuhr mit ihren Fingern über den geschnitzten hölzernen Schwan, zog ihn aus ihrer Tasche.
Es ist das hässliche Entlein. Ihr ganzes Leben lang vergleicht sie sich mit anderen, denkt, dass sie nicht dazugehört; dann wächst sie heran, und ihr wird bewusst, dass sie in Wirklichkeit ein schöner Schwan ist.
Das war nicht nur die Geschichte ihrer Mutter, sondern genauso auch Reggies, oder nicht?
Reggie drehte den Vogel in ihrer Hand um, spürte die feinen Kreuzschraffuren der Federn. Sie sah George vor sich, über seine Werkbank gebeugt, mit dem Beitel in der Hand, wie er sorgfältig auf jede Einzelheit achtete.
Doch dort, in der Mitte seiner Brust, direkt über seinem nicht vorhandenen Herzen aus massivem Holz, war etwas, das nicht dort hingehörte.
Keine Federn, kein Name oder Initialen, wie sie ein Künstler hätte hinterlassen können.
Nein. Dort befand sich, eingegraben in dem Muster auf seiner Brust, eine versteckte Botschaft. Eine Warnung. Ein Geständnis.
Ein winziger, hineingeschnitzter Dreizack.
»Oh, Scheiße«, schluckte Reggie, und der Adrenalinstoß traf sie wie hundert Tassen Espresso. Alle ihre Sinne arbeiteten auf
Weitere Kostenlose Bücher